Jesu Leben /   Meine Kindheit

Erinnerungen von K. Nebelsiek

Quelle: www.kersti.de

 

 

Upload auf fallwelt.de im März 2012

 

Der Johannes. 2

Der Johannes. 2

Maria. 5

Ich will wissen, was du tust 6

Es ist Unrecht 8

Nervenfunktionsprüfung. 9

Fluchtversuche. 12

Wir foltern Maria wegen dir 13

"Mutti sagt, du bist tot.". 14

Ankunft in Karmel 15

Die Sandalen.. 17

Johannes ist übellaunig. 17

Lerne Geistiger Kampf 20

Beweis mir das! 20

Geistiger Kampf 22

Der Sohn des Johannes. 24

Ein Schüler für den Johannes. 25

Ausbildung in Karmel 25

Finde den richtigen Schüler für mich.. 26

Du hast alle Regeln gebrochen.. 27

"Ich werde sterben". 28

Johannes Sohn.. 28

Einweihung. 30

Abschied von Jesus Arid. 32

Unterschiedliche Sichtweisen.. 33

Ein grundanständiger Engel 34

Prüfung im Tempel Jerusalems. 35

Heimkehr 35

Der Intelligenztest 37

Der gelähmte Mann.. 38

Anfängerfehler 39

Ein Testergebnis. 42

Was muß ich tun, damit du mir glaubst?. 44

Das verpflichtet ihn nicht zu absoluter Naivität 45

Eine Unverschämtheit 46

Ein Rat für Torion.. 48

Besoffen.. 50

Wissenschaftliche Experimente. 50

Deine Neugier bringt dich noch einmal um.. 51

Eine Wiedergutmachung. 52

Eine Frage der Ehre. 53

Getrübte Freude. 55

Wahre Einweihungen.. 55

Öffentliche Einweihungen.. 59

Der Hochgeweihte Rat 60

Gefolterte Gefangene. 61

Geheime Geschichte Karmels. 62

Johannes Friedensplan.. 63

Arids Einweihungen.. 63

Der Jesus ist da. 64

Der Mord. 68

Er hat sie umgebracht 70

Ich habe es ihm nicht verziehen.. 72

Ich bin eine Geisel... 75

Das Licht ist Gott 76

Der Heiler in der Wüste. 78

Weitere Stationen von Jesu Kindheit 80

Taufe am Jordan.. 81

Auf wiedersehen bis zum nächsten Mal 83

Zuerst einmal läßt du dein Schwert zuhause ... 85

Träume, die sich nicht von der Realität unterscheiden lassen.. 86

 

 

Der Johannes

Meine ersten Jahre verbrachte ich in einem kleinem Essenerdorf, in dem damals auch der kleine Josef lebte, den wir heute als den Jesus kennen. Da die kleine Maria, Josef und ich einerseits die einzigen Kinder in dem Alter waren und andererseits wir alle ausgeprägte geistige Interessen hatten, waren wir damals so oft beisammen, wie das uns möglich war. Wir alle lernten bei dem alten Heiler Jesus Tios, lesen, schreiben und die Grundbegriffe der geistigen Gesetze und wir hatten, wie Kinder das öfter haben, ausgeprägte übersinnliche Fähigkeiten.

 

 

Der Johannes

Ich war zwei Jahre alt. Eines Tages kamen mehrere fremde Essener. Sie führten einen Esel, auf dem ein Mann ritt, der sehr komisch aussah. Er hatte Hände, die ganz langgezogenen waren und verbogene Finger hatten. Sein Gesicht hatte keinen Bart, es zuckte ständig und er hatte einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck, vor dem man sich hätte fürchten können, wenn er nicht so eine liebe Austrahlung gehabt hätte. Sein Rücken war ganz verbogen und auch die Arme hatten an mehreren Stellen Knicke. Ich ging zu ihm hin, lächelte ihm grüßend zu und sah mir diese merkwürdigen Dinge dann ganz genau an, weil ich verstehen wollte, was da eigentlich los war. Ich kam nicht dahinter.

"Du, warum sehen deine Hände denn so merkwürdig aus?" fragte ich den Mann.
Einer seiner Begleiter lachte und sagte:
"Der kann doch gar nicht sprechen."
Ich sah weiter fragend den Mann mit den komischen Händen an. Er erwiderte meinen Blick und versuchte zu lächeln, aber das gelang ihn nicht richtig. Ich spürte aber seine freundlich grüßende Energie und lächelte ihm zur Antwort zu. Ich mochte ihn. Dann halfen ihm die anderen vom Pferd und führten ihn in Jesus Tios Haus. Er stützte sich schwer auf seine Begleiter und wurde dort sofort auf das Bett von Jesus Tios gelegt. Ich spürte, daß ihm jeder Schritt weh tat. Ich folgte ihnen und setzte mich neben das Bett von dem Mann. Die anderen gingen und fragten mich, was ich denn hier wolle.
"Ich will bei dem Mann bleiben." sagte ich.
"Aber er kann doch gar nicht sprechen." sagte einer seiner Begleiter.
"Aber er ist lieb. Ich bleibe hier und spreche mit ihm." sagte ich.
Die anderen lachten, unterhielten sich darüber, wie niedlich kleine Kinder doch manchmal seien und gingen. Ich fühlte mich durch ihre Worte beschmutzt, denn es war Verachtung.

Nachdenklich sah ich den Mann an. Dann hörte ich plötzlich fremde Gedanken in meinem Kopf:
"Ich bin gefoltert worden. Das heißt, jemand hat mir mit einem Gerät die Finger gewaltsam langgezogen." erkläerte die Stimme und sie klang hart vor Schmerzen.
"Aber wer tut den so etwas?" fragte ich fassungslos.
Das war eine Vorstellung, die weit außerhalb meiner eigenen Denkweise lag. Ich hätte niemals einem anderen Wesen absichtlich wehgetan. Nicht einmal wenn ich dafür bestraft würde, daß ich es nicht tue.
"Böse Menschen." antwortete er und legte sanft seine verunstalteten Hände auf meinen Kopf.
Ich sah ihn an, musterte aufmerksam diesen nutzlosen, schmerzenden Körper und fragte:
"Wer waren sie?"
"Die Engel."

Mir fiel auf, was mich die ganze Zeit gestört hatte. Seine Lichtkörper - feinstofflichen Körper waren nicht wirklich mit dem materiellen Körper verbunden. Die Verbindung war nur halb, wie bei einem Toten. Er WAR schon tot, aber er weigerte sich zu gehen.

"Warum gehst du nicht weg?"
"Ich sterbe nicht, weil ich Verpflichtungen habe. Ich bin der Johannes. Und ich kann erst gehen, wenn ich einen Nachfolger ausgebildet habe. Sonst werden noch viel mehr Menschen gefoltert."

Ich hatte gehört, daß der Johannes der Höchste der Essener sei, und daß er so krank sei, daß er nicht mehr regieren könne. Ich sah ihn an. Ich begriff, was er mir erklärte. Bei der Gedankensprache, hatte ich nicht wie bei der gesprochenen Sprache das Problem, das ich das Meiste, was ich sagen wollte, nicht in Worte fassen konnte und umgekehrt viele Erklärungen nicht begriff, weil mir die Sprachkenntnisse fehlten. Die Gedankensprache arbeitet nicht mit Worten, sondern mit komplexen vieldimensionalen Gedankenkristallen. Es war eine schreckliche Vorstellung, so leben zu müssen. Ich konnte mich an Leben erinnern, in denen ich regiert hatte und daran, daß Verantwortung für mich immer eine sehr schwere Last gewesen war. Aber was er tat, war falsch. Ich WUSSTE daß es falsch war.
"Du mußt gehen. Du vergehst dich gegen den göttlichen Plan." erklärte ich ihm entschieden.
"Aber ich bin der Einzige, der noch das Wissen hat - was wird dann aus meinem Volk?" fragte er empört und verzweifelt.
"WIR sind die Hüter des Lichts. Wir werden es retten, wenn das auf Erden noch möglich ist." antwortete ich und in dem Augenblick wußte ich sicher, daß ich genau dazu ausgebildet werden sollte.
"Ich bin der Johannes. Ich werde bleiben, bis mein Sohn alt genug ist, um mein Amt zu übernehmen." entgegnete er entschieden.
Ich sah ihn prüfend an. Erspürte sein Energiefeld und wußte, daß er nicht auf mich hören würde. Er ist sehr starrsinnig, was die Erfüllung seiner Pflichten angeht oder was er dafür hält. Aber das kann ich gut verstehen. Ich bin nämlich noch viel starrsinniger. Es war wirklich nichts zu machen. Dann würde er meine Hilfe brauchen, um nicht völlig zu verzweifeln.

Er richtete sich mühsam ins Sitzen auf, zuckte mitten in der Bewegung vor Schmerzen zusammen und betrachtete mich nachdenklich. Ich erwiderte seinen Blick.
"Meinst du, du könntest meine Haare kämmen? Der Kamm ist in der kleinen Tasche dort. Ich kann ihn mit meinen kranken Händen nicht halten."
Ich holte den Kamm und begann ihn so zu kämmen, wie ich gerne gekämmt worden wäre, als ich es noch nicht selber konnte. Ganz sanft und vorsichtig.

"Kannst du das überhaupt aushalten?" fragte ich.
Er ließ den Kopf sinken und Tränen flossen über seine Wangen. Ich kämmte einfach nur sacht weiter und wartete, bis er sich wieder gefangen hatte.
"Meist komme ich zurecht. Aber manchmal kann ich einfach nicht mehr. Zwei mal am Tag liege ich einfach nur in der Ecke und weine." antwortete er und hielt sein Energiefeld mühsam unter Kontrolle, weil meines noch zu labil war, daß ich ihm hätte Energie abgeben dürfen.
"Warum sagen die Leute, daß du nicht mehr regieren kannst? Dazu mußt du doch nur reden können, wie du mit mir geredet hast." fragte ich.
"Die Hochgeweihten sind nicht so wie du. Wenn ich versuche, mit ihnen zu reden, hören sie mich nicht. Als ich noch jünger war, wäre niemand in den hochgeweihten Rat aufgenommen worden, der die Gedankensprache nicht versteht." erklärte der Johannes.
"Du kannst mit niemandem reden?" fragte ich.
Ihm kamen wieder die Tränen.
"Da ist mein Sohn und Arid. Aber die sind beide nicht hier. Draußen geht bald die Sonne unter. Willst du ihr zusammen mit mir dabei zuschauen?"

Ich nickte und begleitete ihn hinaus. Wir setzten uns an meine Lieblingsstelle zwischen den Obstbäumen, wo ich immer hinging, wenn ich allein sein wollte und saßen dort stundenlang schweigend beisammen. Ich streichelte ihn und empfand für ihn wie für einen jüngeren Bruder. Schließlich kehrten wir zu Jesus Tios Haus zurück, wo der Johannes schon vermißt wurde. Sie hatten sich Sorgen um ihn gemacht. Trotzdem war es richtig, daß wir so lange geblieben waren. Er hatte diesen stillen Beistand gebraucht.

Auch meine Mutter hatte mich gesucht. Sie hielt mir eine schreckliche Moralpredigt. Ich weinte und versuchte zu erklären, was ich gemacht hatte und warum es wichtig war. Aber wer weiß, wie kleine Kinder sprechen, weiß auch, daß ich nicht fähig war, meine Gedanken in Worte zu fassen, die meine Mutter hätte verstehen können. Ich war ja erst zwei. So schimpfte sie sich ihre Angst um mich von der Seele und ich fühlte mich schrecklich ungerecht behandelt.

Ganz früh am nächsten Morgen wischte ich wieder rüber zu dem Johannes. Ich half ihm beim Aufstehen und begleitete ihn hinaus zum Morgengebet. Als der ranghöchste Priester im Dorf spendete er den Segen, auch wenn andere die Worte dazu sprechen mußten. Nur wir Kinder sahen das strahlende geistige Licht dieses Segens, den er herbeirief. Die Erwachsenen hatten nur das vage Gefühl, daß der Johannes plötzlich irgendwie mächtiger, königlich aussah. Dabei löste sich jedoch der Lichtkörper aus dem materiellen Körper und wollte gehen. - Für die anderen fiel der Johannes nur in Ohnmacht. Ich jedoch sah, wie er schnell, aber mit dem Können langer Übung, die Verbindung wiederherstellte, die der göttliche Segen gelöst hatte, um ihn heimzurufen. Armer starrsinniger Johannes. Es wäre besser gewesen, er hätte den Segen angenommen, statt auf diesem Leben zu bestehen, das für ihn nur ein Qual war. Als er fertig war, trat ich zu ihm hin und sagte in der Gedankensprache:
"Das hättest du nicht tun sollen."
Er weinte. Es sah nicht wie ein Weinen aus - nur wie die tierischen Gesten eines Wahnsinnigen. Aber er war nicht wahnsinnig, er war bei vollem Bewußtsein. Ich streichelte ihn.
"Hast du denn keine Angst?" fragte jemand.
"Mann weint. Eia machen." antwortete ich.
Es bestand ja nun wirklich kein Grund zur Angst. Innerlich - das wußte ich, war ich stärker als der Johannes.

"Simon. Kannst du dir vorstellen, mich auf meinen Wegen zu begleiten?" fragte der Johannes und seine Gedanken waren voll eines verzweifelten Flehens.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, das zu tun und es erfüllte mich ein innerer Schmerz. Die Vorstellung, daß meine Eltern dann nicht mehr bei mir wären, war mir zu schrecklich. Und doch fühlte ich mich wie zerrissen zwischen dem Wunsch, bei Johannes sein zu können und bei meinem Eltern bleiben zu wollen. Aber ich wußte, wie die Antwort lauten mußte. Da ich mich so verlassen fühlen würde ohne meine Eltern, durfte ich ihm nicht zur Seite stehen - nein ich konnte es nicht einmal, denn ich wäre so verletzlich, daß ich dann für eine solche Aufgabe einfach nicht mehr die Kraft übrig hätte.
"Nein" antwortete ich.
Er brach in verzweifeltes Weinen aus, flehte mich an. Ich streichelte seinen unkontrolliert zuckenden Körper und wiederholte meine Weigerung. Irgendwie gelang es ihm, sich wieder zu fangen. Er verstand meine Entscheidung. Und er schämte sich seiner Bitte, denn er hatte eigentlich vorher schon gewußt, daß er darum nicht bitten durfte. Ich streichelte ihn. Er dachte mir zu:
"Es ist gut. Du hast recht. Ich behalte den Tag mit dir als einen der Schönsten in den letzten Jahren im Gedächtnis."
Dann ritt er auf dem Esel davon und ich sah ihm weinend nach. Ich wußte ich war meinem Schicksal begegnet. Maria, die Mutter von Josef - dem späteren Jesus - trat von hinten an mich heran. Ich hob meinen Blick und schaute der neunzehnjährigen in die Augen.

 

 

Maria

Maria sah jünger aus, unschuldiger als ihrem Alter entsprach. Sie hatte wieder diesen Blick, den ich nur von ihr kannte. Sie war wie ein sehr kleines, sehr junges Kind, das mit fassungslos großen Augen beobachtet, wie grausam die Menschen zueinander sind. Ich fühlte mich alt, wenn ich sie so sah, unfaßbar alt. Ich drehte mich um und umarmte sie - ihre Knie genau gesagt - höher kam ich nicht. Doch sie setzte sich hin und weinte, als wäre ich der Erwachsene und sie das Kind. Immerhin hatte sie inzwischen gelernt, daß sie das nicht zu auffällig tun durfte. Die Menschen verstanden sie nicht. Die Schleier, die sie trug, verbargen ihre Tränen. In dem Augenblick trat Josef zu uns.

Er hatte sie nicht aus Liebe geheiratet. Es war ihm von der Führung befohlen worden, da die junge Maria als verheiratete Frau ihr Kind von den Göttern zur Welt bringen sollte. Josef hatte nicht gewußt, was die Pläne waren. Er hatte nur gewußt, daß Maria unmöglich von ihm schwanger sein konnte, denn er hatte nicht mit ihr geschlafen. Er war wütend geworden, nicht weil sie - wie er meinte - einen anderen Mann gehabt haben mußte, sondern weil sie ihm gesagt hatte, daß sie noch nie mit einem Mann geschlafen hatte. Was auch stimmte, aber das konnte Josef nicht wissen und sich auch nicht vorstellen, denn er verstand nichts von der Technik der Engel, die künstliche Befruchtung ermöglicht. Josef hatte sie damals geschlagen, weil sie sich weigerte, zuzugeben, daß sie jemals einen anderen Mann gehabt hatte. Die Engel griffen erst ein, um ihm die Wahrheit zu erklären, als sie glaubten, er wolle sie ermorden. Daraufhin hätte Josef am Liebsten die Engel ermordet, die diese ganze Situation erst geschaffen hatten. Als sie mir davon erzählte, fragte ich Maria, warum sie damals denn nicht gelogen und einen Mann erfunden hätte.
"Aber ich wußte doch gar nicht, wie man das macht!" antwortete sie mir in der Gedankensprache.
Und ihr glaubte ich das unbesehen.

Sanft legte Josef seine Hand auf Marias Schulter.
"Komm. Du solltest dir nicht immer so häßliche Dinge anschauen."
Sanft führte er sie an einen stillen Platz, wo sie in Ruhe weinen konnte und ließ es zu, daß ich mitkam. Seine scharfen Augen hatten wieder einmal erfaßt, was vorging. Irgendwie war es ihm gelungen, die Wunden zu heilen, die dieser böse Anfang geschlagen hatte. Und nun beschützte er die sanfte, empfindsame Maria, als wäre er ihr Vater. Ich wußte, daß er ihre Gefühle nicht so spüren konnte, wie ich das tat. Doch er sah mit seinen ganz normalen körperlichen Augen, was die anderen nicht sahen, und irgendwie schaffte er es, immer die richtigen Worte für seine junge Frau zu finden, die auf eine Art und Weise unschuldig war, wie das nicht einmal kleine Kinder sind. Ich warf Josef ein dankbares Lächeln zu und setzte mich auf Marias Schoß.

"Warum geht er denn nicht?" fragte Maria mich und sie zitterte innerlich noch vor Grauen, über die maßlosen Schmerzen, die der Johannes hatte.
Ich versuchte ihr seine Gründe zu erklären. Aber es war hoffnungslos. Sie hatte Johannes Leid gesehen und es war für sie der Inbegriff des Leids. Größeres Leid konnte sie sich nicht vorstellen. Das Konzept eines Völkermordes, war ihr so unendlich fern, daß sie nicht einmal erahnen konnte, was ich ungefähr meinen könnte. Und sie wußte, daß man nicht nur gut zu anderen sein muß - ebenso wichtig ist es, mit sich selbst liebevoll und freundlich umzugehen. In ihren Augen beging der Johannes ein Verbrechen gegen sich selbst, indem er dem Tod sein Recht verweigerte. Und das war das einzige, was sie daran bisher erfassen konnte. Meiner Ansicht nach hatte sie Recht mit dem Verbrechen - aber ich konnte den Johannes verstehen. Nicht nur ihn. Ich konnte auch die Täter verstehen, die, die ihn zum Krüppel gemacht hatten. Ich war alt. Ich hatte viel getan in früheren Leben und viel erlitten. Sie war jung, was die materiellen Welten anbetraf - hatte aber eine andere, zeitlose Weisheit, wie ein Wesen aus einer höheren, reineren Welt.
Jesus, ihr Sohn, hatte diese Unschuld nicht. Er war von allen Menschen, die ich kannte, mir am ähnlichsten, aber irgendwie königlich, sonnenhaft. Ich bin eher wie jemand, der unauffällig im Schatten steht und nicht bemerkt wird, bis Not am Mann ist. Dann bin ich da.

 

 

Ich will wissen, was du tust

Meine erste Begegnung mit Engeln hatte ich noch in meinem Heimatdorf. Ich spielte gerade mit meiner Freundin Maria und Josef, dem späteren Jesus an einem etwas abseits gelegenen Feld des Dorfes, da kam etwas Merkwürdiges vom Himmel herunter. Wir Kinder versteckten uns hinter zwei Steinen, betrachteten staunend das große, runde Luftschiff. Unten öffnete sich eine Luke, zwei Männer stiegen aus und kamen zielstrebig zu uns herüber. Sie schnappten sich den dreijährigen Josef, der sich schreiend dagegen wehrte und brachten ihn ins Schiff. Dann erhoben sie sich in die Luft und blieben da schweben. Da sie uns gesehen aber nicht beachtet hatten, glaubte ich, daß ich mir um die zweijährige Maria keine Sorgen zu machen brauchte. Ich sagte ihr, daß sie bei den Steinen bleiben und aufpassen müsse und rannte, so schnell mich meine dreijährigen Beine tragen wollten, hinunter ins Dorf zu Jesu Mutter.
"Maria, Maria, du mußt schnell kommen, die Engel haben Jesus mit in den Himmel genommen."
"Wie?"
"Komm mit. Sie haben ihn gefangen und ins Flugschiff geschleppt. Vielleicht sind sie noch da."
"Sag mir wo lang."

Maria, damals erst 19, nahm mich hoch und rannte in die Richtung in die ich sie lenkte. Direkt vor dem Schiff setzte sie mich zu Boden, stürmte hinüber und rief hinauf zu dem über ihr schwebenden Gefährt:
"Wenn ihr mein Kind mitnehmen wollt, dann nehmt mich auch!"

Sie hatte keine guten Erfahrungen gemacht, damals, als sie als 16-jährige in den Himmel gebracht wurde, um durch künstliche Befruchtung ein Kind zu empfangen. Vorher war sie eine glühend überzeugte jungfräuliche Priesterin im Sonnentempel gewesen. Nachher eine stille Frau, die nur selten etwas über die Engel sagte. Meist: Sie sind auch nur Menschen und keine sehr zuverlässigen. Mir hat sie in der Gedankensprache mehr erzählt. Viel mehr. Wenn sie versucht hatte, laut darüber zu reden, ist sie gefoltert worden. Also redete sie mit mir, denn mit Jesus durfte sie nicht - sie war doch seine Mutter, er hatte keine andere und deshalb mußte sie für ihn die Starke sein, die Beschützerin. Aber er wußte Bescheid. Ich habe ihm davon erzählt. Nur wenn sie direkt mit ihm geredet hätte, hätte es ihm geschadet.

Das Schiff landete kurz und Maria wurde eingelassen.

Nach und nach sammelte sich das ganze Dorf um das Schiff. Jesus Tios, der Dorfheiler, ging zum Schiff, wurde eingelassen und kam nach einer ganzen Weile wieder zusammen mit Maria und dem kleinen Josef heraus.

Dann kam der Engel zu mir:
"Na, Junge, möchtest du einmal ein Raumschiff von innen sehen?" fragte er freundlich. Nein, ich frage erst Maria. antwortete ich.
In meinen Augen war Maria die Einzige, die Ahnung von Engeln hatte. Blitzschnell packte er mich am Arm und sagte:
"Tut mir leid. Dazu habe ich keine Zeit. Ich muß dich nur kurz untersuchen. Dann kannst du wieder gehen.

Ich sah ihm in die Augen, die hart und unnachgiebig waren. Er würde mich nicht gehen lassen. Ich glaubte nicht, daß er mich nur untersuchen wollte. Dann hätte ich Maria fragen dürfen, dann hätte sie mich beruhigt. Er hatte etwas Anderes vor. Etwas Schlechtes. Ich schluckte und ging still mit.
"Du hast sie gegen uns aufgehetzt."
Der Engel stand vor mir und er sprach sehr leise, sehr ruhig. Dennoch wußte ich, daß es eine Drohung sein sollte. Ich sah den Mann an.
"Knie nieder."
Ich gehorchte. Er richtete eine Waffe auf mich, aus der Licht kam und mir die Beherrschung meiner Muskeln raubte. Haltlos brach ich zusammen. Das Schiff flog mit mir zusammen weg. Ich war überzeugt, daß sie mich nicht zurückbringen würden. Jetzt brachten sie mich weg, statt Jesus zu klauen. Auf eine merkwürdige Art, war ich damit zufrieden, so als wäre das auf irgendeine tiefere Art richtig.

Irgendwann bekam ich unerträgliche Schmerzen. Ich versuchte, nicht zu weinen, doch die Tränen kamen von alleine. Dann merkte ich, wie ich meine Beine wieder bewegen konnte. Vorsichtig richtete ich mich auf die Knie auf. Ein Engel sah das und forderte mich auf, ihm in einen Nachbarraum zu folgen, wo eine weiße hohe ungemütliche Liege stand.
"Leg dich hin."
"Was machst du mit mir?"
"Nur eine Untersuchung. Leg dich hin."
"Was für eine Untersuchung?"
"Leg dich hin, oder ich fessle dich auf die Liege."
Ich brauchte es gar nicht auszuprobieren: Er war stark genug, um einen dreijährigen Jungen zu bändigen. Still legte ich mich auf die Liege, er legte einen Hebel um und ich verlor das Bewußtsein. Als ich wieder aufwachte, fragte ich:
"Hast du das jetzt schon gemacht?"
"Ja."
"Warum hast du mich einschlafen lassen? Ich wollte es doch sehen!" protestierte ich empört. "Aber das hätte dir wehgetan."
"Ich wollte es trotzdem sehen. Das nächste mal will ich wach sein, egal wie weh es tut." bestand ich auf meiner Forderung "Du hast gelogen. Du hast mich nicht nur untersucht. Sag, was du getan hast!" forderte ich. "Ich habe noch etwas gemacht, damit wir beiden uns immer miteinander unterhalten können. Und jetzt knie nieder."
Ich gehorchte. Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander, Schmerzen rasten durch meinen Körper und raubten mir das Gleichgewicht.
"Ha. Ich habe doch recht gehabt! Er hat mir noch etwas nicht gesagt." war mein erster Gedanke.

Ich sah ihm wimmernd in die Augen. Er wandte den Blick ab und tat es noch einmal. Immer wieder, bis ich als zitternde Bündel vor seinen Füßen lag - weil die Muskeln sich durch diese elektronische Nervenreizung verkrampft hatten, nicht weil ich dort liegen wollte. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich auf den Beinen geblieben. Ich war wütend. Er wartete, bis ich wieder aufstehen konnte, dann führte er mich hinaus und sagte mir:
"Ich werde dich noch öfter rufen. Dann kommst du in Zukunft gleich hierher. Und du erzählst niemandem, was wir tun."
"Ich will aber nicht protestierte ich zornig."
"Was du willst, interessiert hier niemanden! Wenn du nicht gleich kommst, komme zu dir und schieße hiermit auf dich. Dann schläfst du ein und kannst dich nicht mehr dagegen wehren. Aber es tut sehr weh, davon wieder aufzuwachen."
Er brauchte das Gerät gar nicht. Er war ja viel größer, stärker und schneller als ich.
"Wie heißt du?" fragte ich.
Ich wollte wissen, auf wen ich wütend war.
"Ramajan. Tut mir leid, Junge. Das mußte ich tun." sagte er und streichelte mich tröstend.
Ich schlug nach seiner Hand. Da ließ er es bleiben. Ich kann Mitleid nicht ausstehen. Und schon gar nicht, wenn der, der Mitleid hat, auch noch den Grund für sein Mitleid verursacht hat.

"So mein Kind. Jetzt darfst Du wieder nach Hause gehen." sagte er nach kurzer Zeit und ließ mich aus dem Schiff steigen.

Als ich mich draußen umschaute war es mitten in der Nacht und das Schiff war viel näher am Dorf gelandet. Ich erfuhr im Nachhinein, daß ich drei Tage weggewesen war. Nur Maria, Jesu Mutter hatte sich trotz der beruhigenden Worte des Dorfjesus Sorgen um mich gemacht. Ihr erzählte ich am nächsten Tag in der Gedankensprache alles, was geschehen war.

 

 

Es ist Unrecht

Bei der abendlichen Versammlung des Dorfes trat ich in die Mitte, begann zu erzählen, obwohl mir die Engel über Funk mehrmals das Wort verboten, was geschehen war. Schließlich folterten sie mich, bis ich mich nicht mehr rühren konnte. Ich war mit meiner Erzählung nur bis zum Aufwachen gekommen und kam zu dem Ergebnis, daß es mir nicht gelingen würde, wesentlich mehr zu erzählen, solange die Engel so gut aufpaßten. Als ich wieder aufstehen konnte forderte ich von den beiden Dorfjesussen, daß sie die Engel fortschicken sollten.
"Tut mir leid, Simon. Du bist für eine wichtige Aufgabe vorgesehen. Dazu ist das notwendig. Du mußt dich damit abfinden."
"Wie, ihr wußtet das und habt es mir nicht gesagt?" fragte ich empört.
"Wir dachten nicht, daß es so schnell geht. Sonst hätten wir dich darauf vorbereitet." antwortete Jesus Tios.
"Ihr sollt mir das sagen, wenn IHR es wißt!" forderte ich immer noch wütend.
"Wir wollten nicht, daß du unnötig Angst hast." antwortete Jesus Janos, der Kriegerjesus.
"Ihr müßt das sagen. Ich dachte, er macht mich tot!" protestierte ich.
Jesus Tios senkte den Kopf. Er selbst hatte mir immer wieder gepredigt, daß eine harte Wahrheit immer besser ist, als eine beruhigende Lüge.

"Damit du es jetzt weißt. Der Engel Ramajan übernimmt ab jetzt deine Betreuung. Wenn er dich auf sein Schiff ruft, dann hast du zu gehorchen und zu akzeptieren, daß er seine Arbeit an dir tut." sagte Jesus Janos.
Ich sah ihm fassungslos in die Augen. Nein. Er würde nicht nachgeben. Sie verschachern ihre Kinder an Engel. Ich sah meine Eltern an. Harte Augen. Nein. Sie verstanden mich nicht. Für sie war ich ein ungezogenes Kind, das seine Pflichten nicht kannte.

Ich drehte mich zu Maria um. Ihre Augen waren weicher. Ich ging zu ihr hinüber, sah ihr in die Augen und fragte sie leise, ganz sanft:
"Und du?"
"Du wirst dich damit abfinden müssen." ihre Stimme war leise, aber hart, ihre Augen waren voller Schmerz. Sie zog mich an sich und flüsterte mir ins Ohr: "Es ist Unrecht."

Sie verstand mich. In ihren Armen konnte ich mich entspannen und begann zu weinen. Ich wußte natürlich, daß sie nicht die Macht hatte, mich zu beschützen. Aber sie wußte es.

Maria hielt mir eine lange Rede in der Gedankensprache, in der sie mir erklärte, daß ich absolut nicht die Macht hatte, etwas gegen die Machenschaften der Engel zu tun. Die Essener übrigends auch nicht. Nur begreifen sie nicht wirklich, was vorgeht. Maria erklärte mir, daß man sich in solchen Situationen ruhig alles gefallen läßt, was einem angetan wird, abwartet und schweigt, bis sich eine Situation ergibt, in der sich wirklich etwas ändern läßt. Sonst wird man ermordet, bevor man die Gelegenheit erhält, die eigenen Ziele zu erreichen.
Ich nickte. Das konnte ich nachvollziehen.

Danach erzählte Maria mir in der Gedankensprache, daß als sie allein mit Josef, ihrem Sohn im Raumschiff war, mit dem Vater ihres Sohnes - dem König im Himmel - geschimpft hatte. Sie wurde dafür hart bestraft - mit derselben Methode, die auch ich kennen gelernt hatte - so daß sie vor Schmerzen wimmerte. Und sie hat weitergeschimpft. Als Jesu Vater Maria erklärte, daß er Jesus nur untersuchen wolle, verlangte sie, daß er sie in Zukunft rufen und ihr befehlen solle, das Kind zu bringen. Er solle sich doch nur vorstellen, wie schrecklich das dem Kind erscheinen müsse, das seinen leiblichen Vater ja gar nicht kannte. Daraufhin wurde Maria wieder bestraft, doch Jesu Vater hat sich bei späteren Gelegenheiten an ihre Worte gehalten.

Der kleine Josef kam und legte seinen Arm um mich. Er wußte ja, wie das ist. Ich strich über sein weiches Haar und sagte leise:
"Ich muß mich damit abfinden."

 

 

Nervenfunktionsprüfung

Wenige Tage später sah ich den Engel Ramajan wieder. Ich versteckte mich. Doch er wußte genau, wo ich war und kam zielstrebig auf mich zu. Das Schiff, zu dem er mich brachte, war kleiner. Ein Ein-Personen-Schiff. Er ließ mich vor ihm die Treppe hochsteigen und schloß die Tür hinter mir. Als er wegschaute probierte ich es, doch sie ließ sich nicht öffnen. Ich sah ihn an.

Ich hatte einfach Angst. Ich wußte, es würde unangenehm werden. Und ich wollte ganz gewiß nicht dahin, wohin sie mich brachten. Und ich wußte, sie hatten häßliche Dinge mit mir vor, und sie würden mich ganz bestimmt nicht fragen, ob ich das wollte. Ich überlegte, was sie tun könnten, versuchte im Geiste auf jede Möglichkeit eine passende Antwort zu finden. Ich bin ein fantasievoller Mensch. Ich wußte viele Möglichkeiten, auf die selbst sie in jenem Leben nie gekommen sind. Sehr schnell merkte ich, daß ich mich nur selbst verrückt machte. Schlimmer als meine Fantasien konnte die Wahrheit nicht sein. Ich mußte herausfinden, was sie mit mir vorhatten, um den ein Ende zu machen.

Ich sah mich nach einem Engel um, der etwas netter aussah, als die anderen. In Wirklichkeit sind sie nämlich einfach nur Menschen. Mit manchen kann man ganz normal reden, hatte mir Maria erzählt. Ich sah ein Mädchen, kaum älter als ich. Ihre Ausstrahlung war in Ordnung.

"Hallo." sprach ich sie an und lächelte ihr zu. Schüchtern kam sie näher. Es war sinnlos, ihr Fragen stellen zu wollen, bevor sie ein wenig Vertrauen zu mir gefaßt hatte. Also verwickelte ich sie zuerst einmal in ein Gespräch über ihr Leben. Es tat mir auch einfach gut, mal mit einem netten Menschen reden zu können. Schließlich fragte ich sie, ob sie wüßte, was die Erwachsenen mit mir vorhätten. Sie nannte mir ein langes kompliziertes Wort, von dem sie auch nicht wußte, was es hieß. Ich versuchte es nachzusprechen und ließ sie es mir noch ein paar mal vorsagen, bis ich glaubte, es mir gemerkt zu haben. Dann näherten sich Schritte einer Erwachsenen und sie versteckte sich. Eigentlich durfte sie nämlich nicht hier sein.
"Was ist Nervenfunktionsprüfung?" fragte ich die Engelfrau, die hereinkam.
"Eine WAS?" fragte sie.
"Eine Nervenfunktionsprüfung."
Ich vermutete, daß es mir doch nicht gelungen sei, mir das Wort richtig zu merken.
"Wo hast du denn so ein häßliches Wort her?" fragte sie entsetzt.
"Das wollt ihr mir machen." erklärte ich.
"Aber nein Kind. Ganz bestimmt nicht. So etwas macht man doch nicht mit kleinen Kindern." meinte sie beruhigend.

An ihrer Stimmung merkte ich, daß es etwas sehr Häßliches sein mußte. Dann hatte ich es mir doch richtig gemerkt. Sie legte mich auf eine von diesen Behandlungsliegen und schnallte mich dort fest.
"Aber was ist es denn?" fragte ich und bekam es langsam richtig mit der Angst.
"Nein, das kann nicht sein. Du hast da irgendetwas falsch verstanden. Sie sagten du brauchst keine Betäubung. Das wäre ja Folter."
Mit diesen Worten ging sie hinaus. Was Folter ist, hatte ich einmal gesehen. Würde ich nachher genauso verstümmelt sein wie der Johannes?

Sie hatte recht. Es war Folter. Es unterschied sich kaum von der anderen Folter, nur daß es stärker im Körper verteilt war, nicht immer vom rechten Schulterblatt ausging, wie die über Funk übertragenen Foltern. Aber meine schlimmste Befürchtung bestätigte sich nicht: Nachher war ich immer noch körperlich gesund.

Als die Engel, die die Nervenfunktionsprüfung gemacht hatten, gingen, kam sie herein. Mit niedergeschlagenen, matten Bewegungen löste sie die Riemen, die mich an der Liege festgehalten hatten, als mein Körper sich vor Schmerzen aufbäumen wollte. Ich richtete mich im Sitzen auf. Mein Körper zitterte jämmerlich. Sie weinte. Ich sah ihr in die Augen.
"Warum weinst du?" fragte ich.
"Jetzt foltern sie schon Kinder."
"Ja. Und du hilfst." ergänzte ich hart.
Sie schlug zitternd die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Ich berührte sanft ihre Hand.
"Du bist nicht böse."
Sie sah mich an und weinte noch mehr.
"Du mußt weg sonst machen sie dich böse."
"Aber ich muß doch meine Tochter ernähren!" protestierte sie.
"Mit Nervenfunktionsprüfung? Gerita will das nicht. Komm." widersprach ich.

Mir fiel plötzlich siedendheiß ein, daß das Mädchen ja direkt im Nebenraum unter einem Tisch versteckt saß. Sie hatte alles mitbekommen. Ich nahm die Mutter an die Hand und führte sie dorthin. Ich hörte das gleichaltrige Engelmädchen leise und verzweifelt weinen.
"Komm, Gerita."
Sie kroch noch weiter in die Ecke und sah ihre Mutter anklagend an.
"Gerita, sie wußte es nicht." sagte ich.
Sie antwortete nicht.
"Du mußt hier weg. Sie machen dich böse." ermahnte ich die Mutter noch einmal ernst.
Dann krabbelte ich unter den Tisch und nahm das Kind in den Arm. Ich redete lange mit Gerita, versuchte sie zum Verzeihen zu überreden.

Als wir gemeinsam unter dem Tisch hervorkamen, fragte ich die Engelfrau, ob sie mich jetzt nach Hause bringen würde.
"Nein. Du mußt hier bleiben." antwortete sie und ich spürte, wie sehr sie sich wünschte, mir helfen zu können.
Ich sah sie nur schweigend an, und versuchte irgendwie mit meiner Angst vor der Zukunft fertig zuwerden. Ich war überzeugt, wenn sie mich hier behielten, dann hatte das häßliche Gründe. Die Engelfrau sah mich an, hatte Mitleid, und überlegte, ob sie irgendetwas für mich tun könnte. Ihr fiel etwas ein:
"Weißt Du was, du kommst einfach mit zu uns. Dann könnt ihr miteinander spielen."
Ich nickte. Das war ein guter Gedanke. Dann hätte ich zumindest keine Zeit mir über eine Zukunft Sorgen zu machen, an der ich sowieso nichts ändern konnte.

Sie ließ uns in Geritas Zimmer allein, weil sie, wie sie sagte, etwas erledigen wollte.

Am Ende habe ich die kleine Gerita mehr ausgefragt, als mit ihr zu spielen. Denn sie wußte viele Dinge über die Technik der Engel, die mir kein erwachsener Engel hatte erklären wollen. Man weiß nie, wozu solches Wissen später noch einmal gut sein wird. Später schaute die Engelfrau mal kurz bei uns herein, lächelte, als sie uns leise miteinander reden und lachen sah. - Sie glaubte, ich hätte für kurze Zeit vergessen, in was für einer Situation ich steckte. Aber das lag nur daran, daß sie nicht wußte, daß man immer lachen kann - und über alles.

Etwas später holte mich ein anderer Engel ab. Während der folgenden Tage wurden noch mehrere Operationen und Nervenfunktionsprüfungen durchgeführt. Ich sah Gerita und ihre Mutter Karaha nicht wieder, bevor sie mich zurück auf die Erde brachten. Sie setzten mich in einem kleinen Tal nicht weit von unserem Dorf entfernt ab, von wo aus selbst ich mühelos alleine nachhause gehen konnte und schärften mir ein, daß ich über meine Erlebnisse im Himmel mit niemanden reden durfte, sonst würden sie dafür sorgen, daß ich gar nicht mehr reden konnte.

 

 

Fluchtversuche

Ich versuchte es trotzdem meinen Eltern zu erzählen.
"Simon, du kommst sofort aufs Schiff." hörte ich augenblicklich Ramajans Stimme in meinem Kopf.

Ich versteckte mich in der Höhle mit den Vorräten des Dorfes. Es dauerte kaum fünf Minuten, bis Ramajan schließlich hereinkam und geradewegs auf mich zu lief. Er schoß in das Heu, unter dem ich lag und ich konnte mich keinen Millimeter von der Stelle rühren, als er das Heu zur Seite räumte.

Dann trug er mich ins Schiff und schnallte mich auf der Behandlungsliege fest. Er nahm mir Blut ab und schnitt ein Stückchen Haut ab. Und obwohl ich mich nicht rühren konnte, tat es genauso weh, wie sonst auch. Dann kamen noch zwei Engel und sie begannen, meinen Hals aufzuschneiden. In mir erwachte Panik. Ich weiß nicht, ob ihr euch vorstellen könnt, was es für ein Gefühl ist, wenn einem jemand den Hals aufschneidet und man kann keinen Muskel rühren. Doch ein Teil von mir konnte dazu Abstand nehmen und wußte, daß diese Todesangst im Grunde unsinnig war: Wenn sie mich wirklich hätten umbringen wollen, hätten sie die Operation nicht dermaßen sorgfältig vorbereitet. Es waren die Vorbereitungen, um mich am Reden zu hindern. Sonst nichts. Als wenn das nicht schlimm genug wäre. ... Mühsam brachte ich meine Panik und meine rasenden Gedanken wieder unter Kontrolle. Ganz egal, was sie mit mir vorhatten, ich konnte nichts dagegen tun. Ich mußte mich damit abfinden und zusehen, wie ich damit zurechtkam.

Schließlich hörten sie auf, legten einen Hebel an der Maschine über der Behandlungsliege um und dann begann mein ganzer Körper zu kribbeln und wehzutun. Ähnlich wie ein eingeschlafener Fuß, der langsam aufwacht. Dann schnallte Ramajan mich los. Ich richtete mich auf und griff nach meinen Hals. Er fühlte sich ganz normal an. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können - nach den Operationen der Engel war von außen nie etwas zu sehen. Ich sah ihn fragend an.
"Sag mal etwas."
"Was soll ich denn sa..." setzte ich an.
Mitten im Satz wurde mir das Wort durch einen brennenden Schmerz abgeschnitten, als würde mir jemand die Kehle aufschlitzen. Reflexhaft verkrampften sich alle Muskeln im Hals, so daß ich keine Luft bekam. Anklagend sah ich Ramajan an.
"So. Das wird jetzt immer passieren, wenn Du etwas Böses sagst."
Zitternd schnappte ich nach Luft. Ich sparte mir jedes weitere Wort, denn Ramajan war ganz gewiß kein Mensch, mit dem ich gerne reden würde.

Drei, vier mal versteckte ich mich noch. Jedesmal fand mich Ramajan genauso schnell. Dann verloren sie die Geduld und drohten mir, daß beim nächsten mal, wenn sie mich rufen würden, Maria zur Strafe für mein Ungehorsam gefoltert würde. Von da ab gehorchte ich.

 

 

Wir foltern Maria wegen dir

Eines Tages, als ich gerade bei Maria, Jesu Mutter zu Besuch war, funkte Ramajan mich an:
"Simon, du bringst Maria zu uns aufs Schiff."
Ich sagte Maria, was sie mir befohlen hatten und riet ihr, zu fliehen. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Sie folterten mich, bis ich mich nicht mehr rühren konnte.
"Führ mich hin." befahl Maria scharf und dachte mir dann verärgert zu:
"Simon! Was habe ich dir gesagt? Wenn du mich warnen oder irgendetwas Negatives über die Engel sagen willst, nutze die Gedankensprache. Abgesehen davon kann ich dem nicht entkommen, wenn sie mich auch überwachen und foltern wollen, wie sie das mit dir tun. Ich trage selbst einen Sender, genau wie mein Sohn Josef und du. Ich bin die Mutter des zukünftigen Jesus. Ich werde gehen."

Ich besann mich und wechselte zur Gedankensprache, um sie zur Flucht zu überreden. Ich wollte, daß Maria, dieser liebe, fröhliche Mensch, der durch das Leid der Welt nicht berührt zu werden schien, nicht so leiden mußte, wie ich. Ich wollte, daß sie so glücklich bliebe, wie ich sie kennen gelernt hatte. Ich wollte, daß sie weiterhin so rein und unschuldig bliebe, wie ich sie kennen gelernt hatte. Doch sie bestand darauf, daß ich sie zum Schiff führte und als ich mit meiner Bettelei nicht aufhörte, klopfte sie sogar noch an, obwohl auch ihr klar war, daß sie unser Kommen längst bemerkt hatten. Ich trottete todunglücklich hinter ihr her.

Maria betrat das Schiff, begrüßte die anwesenden Engel und fragte, womit sie ihnen dienen könne.
"Du hast lange genug gegen unser Pläne gearbeitet. Das hat jetzt ein Ende. Ab heute tust du, was wir dir befehlen. Knie dich hin."
Maria nickte lächelnd und gehorchte. Ihr sanftes Gesicht, verriet nicht, was sie dachte. Sie folterte sie bis zur Besinnungslosigkeit. Sie litt mehr und auf andere Art und Weise an den Foltern als ich. Das tat mir in der Seele weh, wie ich nie unter eigenen Foltern hätte leiden können. Maria zu foltern, das spürte ich, war Unrecht. Wenn mich jemand folterte, konnte ich das dagegen irgendwie als etwas akzeptieren, das mir gerechterweise zukam.

Sie ließen mich zusehen, wie sie Maria folterten. Tagelang. Sie sagten mir wider und wieder, daß nur mein Ungehorsam daran schuld sei, daß sie gefoltert wurde. Sie ließ es durch ihre Miene nicht erkennen, blieb ruhig und freundlich, aber ich wußte, wie sehr sie litt, auch wenn sie nie über die Schmerzen klagte, die sie ihr zufügten. Ich konnte die Menschen verstehen, die Maria folterten. In früheren Leben hatte ich dergleichen selbst gemacht. Für Maria war es ein unverständlicher Wahnsinn in ihren Seelen, von dem sie nur wußte, wie sehr er die Seelen der Täter und Opfer zerstörte. Maria lernte in jenen Tagen, was wahres Leid ist. Zum ersten Mal seit dem Beginn des Universums. Und sie ging durch diese unbekannte Erfahrung mit großem Mut und der Entschlossenheit, konsequent das zu tun, was sie als richtig erkannt hatte.

Maria wurde dadurch sehr verändert. Stiller. Sanfter. Sie lernte eine neue Gelassenheit gegenüber Leid, in gewisser Weise lernte sie, ihren Frieden damit zu machen, daß es nun einmal Teil dieser Welt war. Und sie bekam einen bissigen Humor, den sie vorher nicht gehabt hatte. Vorher war ihr Lachen reine Freude gewesen. Jetzt war es manchmal Trotz. Sie verlor das Unirdische, Strahlende in ihrem Wesen, diese reine, ungetrübte Freude. Sie wurde irdischer, menschlicher. Sie lernte zu verstehen. Nachher liebten die Menschen sie weniger, weil sie ihnen nicht mehr diesen Traum der ungetrübten Liebe und Freude vorleben konnte. Doch sie verstanden sie besser und nahmen ihre Worte eher ernst, weil sie spürten, daß dahinter nicht nur Liebe und theoretisches Wissen sondern auch eigene Erfahrung stand.

Zwischendurch wurde auch ich gefoltert. Ich war mit meinen Gedanken jedoch die meiste Zeit bei Maria. Es tat mir so weh, was sie ihr antaten. Für mich selbst war gefoltert werden dagegen eine sozusagen alltäglicher Erfahrung. Ich war in nahezu jedem meiner letzten hundert Leben so sehr gefoltert worden, daß andere Menschen das nicht verkraftet hätten. Doch Übung macht den Meister. Ich kam damit klar.

Ramajan hat mich noch oft abgeholt. Nicht alles waren nur Untersuchungen. Und da ich Betäubungen ablehnte, war vieles unangenehm oder schmerzhaft. Außer mit Maria habe ich nie wieder mit einem Erwachsenen des Dorfes darüber gesprochen.

 

 

"Mutti sagt, du bist tot."

Ich war drei. Jesus Tios war - wie gesagt - alt und machte sich Gedanken, wer nach ihm das Amt des Jesus in unserem Dorf übernehmen könnte. Damit erklärte er auf einer Versammlung des Dorfes den Vorschlag, mich zur Ausbildung nach Karmel zu schicken, wo der Orden der Essener seine größte Heilerschule hatte. Mir kam das damals wie Verrat meiner Eltern vor, die mich gegen meinen Willen in die Fremde schickten. Ich hatte geradezu panische Angst, weil mir klar war, daß Ramajan, der Engel mir auch dorthin folgen würde, doch es gab dort niemanden, dem ich vertrauen konnte.

Ich zog mich in die Felder zurück und weinte. Der kleine Josef, der später Jesus werden sollte fand mich dort und fragte mich, warum ich so weine. Ich schüttete ihm mein Herz aus. Josef sah mich an, lächelte eigenartig und erzählte, daß er bald nur Ausbildung in die Fremde geschickt werden sollte.

Da riß ich mich zusammen. Er hatte zweifellos ebensolche Angst davor, aus denselben Gründen. Ich lächelte ihm traurig zu und meinte sanft:
"Ich fürchte, das gehört auch zu den Dingen, mit denen wir uns abfinden müssen."
"Ja." sagte Jesus nur.
Ich legte den Arm um ihn.
"Wer hat die Verantwortung? Deine Mutter oder dein Vater?" fragte ich leise.
Da begann er still zu weinen.
"Vater. Nicht Papa."
Ich nickte. Damit war alles gesagt. Dem Mann war nicht zu trauen. Sanft strich über die Haare meines Freundes. Mit Papa war der alte Zimmermann Josef gemeint, in dessen Familie Jesus und Maria aufgenommen worden waren.

Vor Maria hatte ich dagegen Hochachtung, vor dieser Frau, die ihr Kind gegen Gott und die Welt verteidigen würde, wenn sie nur könnte. So legte sie sich nur meist erfolglos für Josef mit ihnen an. Und sie steckte manches dafür ein.

Mein Vater brachte mich mit einem der drei Esel des Dorfes selbst nach Karmel. Er versuchte mich zu trösten und zu beruhigen, erzählte mir von der großen Bedeutung Karmels. Doch da er mich nicht wirklich verstand, traute ich seinem Urteilsvermögen nicht. Nur eines merkte ich mir: er hatte gesagt, daß der Johannes dort wohnte.

Unterwegs schliefen wir in einem der unterirdischen Essenerhäuser, die die Engel gebaut hatten. Ich lief Abends zu den Kindern des Hauses und schaute ihnen beim Spielen zu dabei entdeckte ich - Gerita. Ich war mir nicht sicher, das Engelmädchen trug dieselben Kleider wie die Essenerkinder. Aber sonst sah sie genauso aus. Ich freute mich.
"Gerita?" fragte ich leise.
Sie fuhr herum sah mich fragend an - erkannte mich nach einigem Überlegen und fragte ungläubig:
"Simon?"
"Ja."
Wir umarmten uns.
"Mutti sagt, du bist tot"
"Komm, wir zeigen ihr, daß ich nicht tot bin."

Gerita führte mich hoch in einen mit technischen Geräten vollgestopften Raum. Der Engel dort war ebenfalls gekleidet wie ein Essener. Er drehte sich zu mir um, sah mich an - ja - es war Karaha, Geritas Mutter. Ihre Augen wurden groß vor Unglauben, als sie mich sah. Fassungslos starrte sie mich an und traute ihren Augen nicht.
"Bist du wirklich der kleine Simon?" fragte sie immer noch staunend.
"Ja." antwortete ich und dachte: "Ramajan lügt immer."
"Sie haben gesagt, daß sie dich zu Tode gefoltert haben." erklärte die Engelfrau und streichelte mir übers Haar. Sie freute sich wirklich, mich wiederzusehen.
"Vielleicht tun sie das noch." antwortete ich.

Die bisherigen Foltern hatten mich zumindest eines gelehrt - auch wenn ich weder gefoltert werden noch sterben wollte, war ich stark genug, um innerlich alles zu verkraften, was sie mir antun würden.
"Du bist so tapfer." sagte sie.
Ich hob den Blick und lächelte der Frau zu, um sie zu trösten und zu beruhigen.
"Wie du dabei noch lächeln kannst!"

Da mußte ich lachen. Das wäre ja noch schöner, wenn andere darüber entscheiden könnten, was ich fühle! Ich umarmte sie noch einmal. Wenn doch mehr Engel so wären, wie Karaha!

Ich schlief - müde wie ich von dem langen Tag war - in ihren Armen ein. Als ich aufwachte lag ich neben Gerita in deren Kinderbettchen. Kaum hatten wir uns angezogen, holte mein Vater mich ab, zum Weiterritt nach Karmel.

 

 

Ankunft in Karmel

Beim Abschied schenkte er mir ein paar Sandalen. Ich drückte sie an mein Herz, weil sie mir so richtig klar machten, wie sehr mich dieser Mann doch liebte. Selbst wenn er die Welt falsch sah und deshalb falsche Entscheidungen traf, tat er doch sein Bestes für mich.

Dann mußte er gehen und ein großer schlaksiger Junge führte mich in ein kleines Zimmer, gerade groß genug, um einem Bett, einem Bücherbrett, einem Schreibtisch und einem Stuhl Platz zu bieten. Ein Hochbett war unter der Decke, so daß sie gesamte Einrichtung auf einer Fläche von zwei mal zwei Metern Platz fand. Es war ein Zimmer für einen Erwachsenen.
"Das ist jetzt dein Zimmer." sagte der Junge und ging.

Ich blieb zurück und fragte mich, was zu tun sei. Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, daß es vermutlich das Klügste sei, zu warten, bis jemand kommt, um mich zu holen. Ich wartete zwei Tage. Dabei wurde mir so nach und nach klar, daß sie mich wohl vergessen haben mußten. Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, daß ich besser selber nachschauen sollte. In dem Augenblick erklang eine Glocke. Ich lief hinunter in den Hof, und schaute, was das sei. Der erste, dem ich begegnete, war ein weishaariger Mann ohne Bart, der aber gar nicht so alt aussah.

Ich erzählte, wer ich war und fragte, ob sie mich vergessen hätten. Er lächelte:
"Du warst schnell. Die meisten brauchen länger, um zu merken, daß niemand sie holen kommt."
Er hatte eine recht hohe Stimme.
"Wie? Macht ihr das immer so? fragte ich empört."
"Ja. Eines mußt du dir merken. Hier wird niemand dir sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Das ist allein deine Entscheidung."
"Warum hast du keinen Bart?"

In seinem Gesicht zuckte es. Ich wußte: ich hatte ihn an etwas erinnert, das ihm sehr weh tat.
"Das ist eine lange Geschichte. Komm, setz dich auf meinen Schoß, dann erzähle ich sie dir:
Als ich so alt war wie du, kam ich hierher und wurde zum Heiler ausgebildet, wie auch du hier ausgebildet werden wirst.
Doch als ich etwa zwölf war, machten wir mit drei von uns Jungen einen Ausflug und dabei wurden wir von Römern entdeckt, wegen unserer Kleidung als Bewohner dieser Burg erkannt, gefangengenommen, verschnitten und in die Sklaverei verkauft."

"Was heißt verschnitten?"
"Sie haben mir die Eier abgeschnitten."
Mir wurde klar, was das bedeutet und ich war entsetzt.
"Aber tut das denn nicht schrecklich weh?"
"Allerdings." sein Gesicht war hart.
"Und warum hast du dann keinen Bart?"
"Wer keine Eier hat, dem wächst kein Bart und die Stimme bleibt so hoch wie bei einem Kind oder einer Frau. Und ich kann natürlich keine Kinder kriegen."
"Das war mir klar." sagte ich. "Sklaverei ist Unrecht. Deshalb nimmt der Orden jeden entflohenen Sklaven in Schutz, der darum bittet. Du weißt vielleicht, daß der Orden uns bittet, wegen der politischen Probleme, die daraus entstehen würden, würde diese Haltung bekannt, Sklaverei zu akzeptieren, wenn wir in diese Lage kommen sollten.
Dazu wäre ich auch bereit gewesen, wenn ich einen einigermaßen anständigen Herrn gehabt hätte. Verschneiden läßt sich ja nicht mehr rückgängig machen. Doch der Mann, der mich kaufte, war jemand, der Vergnügen daran hat, Menschen zu foltern und zu verstümmeln.
Ich bin geflohen und heute noch werde ich von vielen Essenern dafür verachtet, weil sie es für Feigheit halten. Das ist auch der Grund, warum mich niemand in einem wirklich hohen Amt akzeptieren würde.
Aber ich glaube, wer so behandelt wird wie ich damals und nicht flieht, dem mangelt es einfach an Selbstachtung.
Da ich keine Kinder kriegen kann, habe ich mich entschieden, euch hier auszubilden, damit ich wenigstens etwas mit Kindern zu tun habe."

Mit der Geschichte stimmte etwas nicht. Vor meinem inneren Auge sah ich Engel. Der Schmerz war echt aber anders, als die Geschichte erklären würde. Sie enthielt ein Gefühl, zutiefst ungerecht behandelt zu werden und nichts dagegen tun zu können. Ich nickte nachdenklich und entschied, ein Experiment zu machen.
"Hallo?" dachte ich ihm zu.
"Du kannst die Gedankensprache?" fragte er.
"Ja. Ich will dir etwas erzählen."
In der Gedankensprache erzählte ich, von Mutter Maria, dem kleinen Josef und meinen Erlebnissen mit den Engeln. Er hörte mir nachdenklich zu, nickte von Zeit zu Zeit. Schließlich sagte er in der Gedankensprache:
"Dazu kann ich dir einiges erzählen:
Der König im Himmel kam eines Tages zum Hochgeweihten Rat und bat darum, daß du als Gefolgsmann des Königs-Jesus, der da kommen soll, eingeteilt wirst. Wir teilten ihm mit, daß nach dem augenblicklichen Stand der Dinge nichts dagegen einzuwenden sei. Allerdings müsse man sehen, wie du dich entwickelst. Wenn es dir an den nötigen Fähigkeiten mangele, könnte diese Zustimmung noch zurückgezogen werden. Deshalb wurdest du auch zur Ausbildung hierher geschickt. Jesus Tios durfte das nur nicht vorm Rat des Dorfes erwähnen.
Etwas später kam der König im Himmel mit dem Vorschlag zu uns, daß er dir ein Gerät einpflanzen wolle, mit dem er über dich wachen und dir möglicherweise helfen könne. Das wurde ihm erlaubt, da außer dem Johannes alle Männer des Rates ihm vertrauten.
Simon, wenn du darauf bestehst, werden wir zu ihm hingehen und die Erlaubnis dazu zurücknehmen. Aber ich würde dir aus verschiedenen Gründen davon abraten. Ich gehe davon aus, daß er nicht über dich wachen, sondern vor allen Dingen dich überwachen will. Wenn du nun zeigst, daß du das durchschaust - und so und nicht anders wird er deine Ablehnung deuten - gehe ich davon aus, daß er dir die jetzigen Geräte herausoperieren und heimlich andere einpflanzen wird. Sie haben Mittel und Wege, dich solche Dinge vergessen zu machen. Dann wird er dich eher noch gründlicher überwachen und dir zusätzlich genug mißtrauen, um dich eventuell umzubringen, wenn du das Falsche sagst oder tust. Die ganze Situation gleitet dir damit nur noch mehr aus den Händen. Und was noch schlimmer ist: niemand wird dir glauben oder dich verstehen. Außer Johannes vielleicht und ich.
Nimm dir für die Entscheidung einige Tage Zeit und sag mir dann, was du willst." sagte er.
"Wie heißt du?" fragte ich ihn, da mir plötzlich bewußt wurde, daß ich ihn das noch nicht gefragt hatte.
"Ich bin Jesus Arid." Ich erkundigte mich, wie das mit dem Essen geregelt war und zog mich dann in mein Zimmer zurück.

 

 

Die Sandalen

Als ich zurück in mein Zimmer kam, waren die Sandalen weg. Ich stürmte zurück zu Arid und beschwerte mich darüber, daß mir jemand die Sandalen geklaut hätte.
"Dazu kann ich dir etwas sagen: Du bist in der Ausbildung zum Jesus. Du darfst keine Schuhe besitzen. Ein Jesus darf nur zwei Gewänder, einen Kamm, einen Löffel, einen Teller, eine Tasse, eine Tasche und sein Arbeitsgerät besitzen.
Es tut mir leid, daß ich für dich keine Ausnahme machen kann, denn ich weiß, wie verzweifelt du im Augenblick bist. Das würde niemand verstehen. Aber ich weiß auch, wie stark du bist. Du wirst es verkraften."

Ich stürzte mich auf ihn und trommelte mit meinen kleinen Fäusten auf ihn ein. Ich versuchte verzweifelt, ihn umzustimmen. Doch erfolglos. Jesus Arid ließ meinen Wutausbruch ruhig über sich ergehen, strich mir tröstend übers Haar und blieb bei seinem Nein. Ich habe in den Jahren der Ausbildung dort gegen nichts so rebelliert, wie dagegen, daß sie mir die Sandalen abgenommen haben. Dabei wollte ich sie gar nicht anziehen. Ich wollte sie nur in meinem Zimmer liegen haben und sie jeden Abend ansehen, als Erinnerung daran, daß mein Vater mich liebt. Und doch spürte ich irgendwo, daß Arid mich auch in dieser Situation verstand. Schließlich kehrte ich in mein Zimmer zurück. Dort kauerte ich mich in einer Ecke zusammen und dachte an Maria, die gesagt hatte:
"Du wirst dich damit abfinden müssen." und dann "Es ist Unrecht."
Ich weinte still vor mich hin. Das mit den Sandalen war Unrecht und das mit den Engeln und mit beidem mußte ich mich abfinden, weil ich nicht die Macht hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Den Engeln konnte ich verzeihen, denn ich habe nie etwas gutes von ihnen erwartet. Aber Arid, von dem ich gehofft hatte, daß er mich unterstützen würde - dem habe ich es übel genommen. Erst nach Jahren habe ich ihm das verziehen.

 

 

Johannes ist übellaunig

Am nächsten Morgen ging ich zu Arid und sagte ihm, daß er wegen der Engel nichts unternehmen sollte. Er nahm mich wortlos in den Arm. Er wußte, wie traurig ich war.

Etwas später fragte ich, was ich hier denn eigentlich lernen sollte.
"Das kommt darauf an, was du lernen willst. Doch du kannst nicht Krieger und Heiler gleichzeitig werden. Die Kurse liegen parallel." erklärte Arid.
Ich fragte Arid über die verschiedenen Möglichkeiten aus und entschied mich dann für Kräuterkunde morgens und Chirurgie nachmittags.

"Du, wo wohnt denn der Johannes?" fragte ich.
"Hier auf Karmel."
"Meinst du, ich darf ihn mal besuchen?"
"Der Johannes ist ein kranker Mann. Er ist manchmal übellaunig."
"Aber in Wirklichkeit ist er ganz lieb." ergänzte ich.
"Er kann nicht sprechen."
"Mit mir hat er aber einmal gesprochen. In meinem Kopf. Er hat mich gefragt, ob ich bei ihm bleiben möchte. Aber ich habe gesagt, daß ich lieber bei meinen Eltern bleiben will. Ich war doch nur zwei."
"Das war auch sehr vernünftig von dir. Es ist schwer für den Johannes, daß niemand seine Sprache versteht und daß er zusätzlich bei allem auf Hilfe angewiesen ist. Aber ein so ein kleines Kind, wie du es damals warst, soll besser bei seinen Eltern bleiben, bis es mindestens zehn Jahre alt ist." antwortete Jesus Arid.
"Er hat doch nur gefragt. Aber jetzt, wo ich sowieso da wohne, wo er auch wohnt, da kann ich ihn auch besuchen, oder? Meinst du, er mag mich noch?"

"Komm mit." befahl mir Arid, er war wütend und führte mich durch einige Gänge in einen Raum, der ein wenig größer war als mein Zimmer, weil dort das Bett auf dem Boden stand.
Der Johannes saß auf einem Stuhl und sah uns beiden aufmerksam an. Ich lächelte ihm grüßend zu, erinnerte mich, wie es sich angefühlt hatte, im Geiste mit ihm zu reden und versuchte ihn wieder so zu erreichen:
"Hallo"
"Hallo, Junge. Wo hast du denn das gelernt?"
"Aber du hast es mir doch beigebracht, als du bei Jesus Tios zu Besuch warst. Und du hast gesagt, daß ich dich immer besuchen darf. Und jetzt wo ich ja auch hier wohnen muß, wollte ich fragen, ob ich dich jeden Tag besuchen darf und mit dir reden darf."
"Ich freue mich jedesmal, wenn du kommst, Junge. Wie heißt du überhaupt?"
"Simon"
"Ach, jetzt weiß ich, wer du bist. Damals warst du aber wirklich noch sehr klein. Ich hätte nicht gedacht, daß du dich jetzt noch an mich erinnern kannst."
"Aber du bist doch der liebe Johannes!" sagte ich.
Er lachte und dieses Lachen war voller Freude, doch dahinter lagen Tränen.
"Weißt du nicht, wie die Leute über mich reden?"
"Arid hat gesagt, du bist manchmal übellaunig" sagte ich.
Der Johannes sah Arid überrascht und verletzt an. Arid erwiderte offen seinen Blick und lächelt ihm dann zu.
"Arid hat recht. Manchmal verliere ich die Geduld mit den Jungen, die sich um mich kümmern sollen. Nicht nur, daß sie die Gedankensprache nicht können - sie machen auch ihre Augen nicht auf und bemerken es nicht, wenn ich versuche, ihnen mit den Händen Zeichen zu geben. Ich kann ja nicht schreiben. Ich kann den Stift nicht halten." erklärte der Johannes mir schließlich.
Ich wunderte mich darüber, denn so, wie ich den Johannes kennen gelernt hatte, konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß er jemals die Geduld verlieren könnte.
"Verlierst du wirklich manchmal die Geduld?" fragte ich erstaunt.
"Ja."
"Oft." mischte sich Arid ein.
"Ja. Oft." bestätigte der Johannes bereitwillig.
Ich spürte eine Bitterkeit hinter diesen Worten, die ich nicht verstand.

"Arid, warum warst du so wütend, als ich gesagt habe, daß der Johannes mich gefragt hat, ob ich bei ihm bleiben will?" fragte ich.
"Er hätte das nicht fragen dürfen." antwortete Arid.
"Warum nicht?" fragte ich.
"Du warst noch zu jung. Du brauchtest deine Eltern noch, um dich gesund entwickeln zu können. Ich hätte diese Frage niemals stellen dürfen." antwortete der Johannes an Arids Stelle ernst.
"Warum hast du dann gefragt?" fragte Arid und er war immer noch wütend darüber.
"Weil mich so nach einem Menschen gesehnt hatte, mit dem ich reden kann. Arid und mein Sohn waren ja beide nicht da." antwortete der Johannes und das war keine Entschuldigung.
Ich spürte, daß beide Erwachsenen das für einen Fehler hielten, den ein Mann in Johannes Stellung sich nicht erlauben durfte.
"Bist du ein kleines Kind, das man nicht alleine lassen kann?" fragte Arid den Johannes verärgert.
"Im gewissen Sinne schon. Ich kann nicht für mich selber sorgen." antwortete der Johannes ernst.
Und ich spürte dahinter sehr sehr viele heruntergeschluckte Tränen.
"Mein Gott, wir haben Arbeit, die getan werden muß. Wir können uns nicht pausenlos damit beschäftigen, dir Gesellschaft zu leisten." meinte Arid verärgert.
"Ich weiß. Ich habe euch ja selbst weggeschickt. Aber das heißt nicht, daß es mir leicht fällt, so zu leben. Es geht immer wieder an die Grenzen meiner Kräfte. Und manchmal - eigentlich regelmäßig zwei mal am Tag - kann ich nur noch heulen. Ich verliere einfach manchmal den Überblick und dann erscheinen mir meine Probleme so unerträglich, daß ich nichts anderes mehr sehe. Ich muß damit leben, daß ihr nicht immer für mich da sein könnt und dürft und ihr müßt damit leben, daß ich nicht unfehlbar bin." erklärte der Johannes "Komm, laß uns rausgehen, den Sonnenuntergang beobachten. Wenn dann nachher die Jungen kommen, die mir beim Schlafengehen helfen sollen, schaust du einfach zu. Ich glaube, du wirst mich dann verstehen."

Wir gingen also hinaus und beobachteten schweigend das Farbenspiel der untergehenden Sonne auf den Berggipfeln. Ich genoß die Nähe des Johannes. Schließlich, als es ganz dunkel war, kamen drei Jungen.

"Warum hast du dich schon wieder hier versteckt? Weißt du, wie lange wir dich gesucht haben?" schimpfte einer der Jungen.
Johannes stand schweigend auf und ging zu ihnen hin. Er konnte ja auch gar nicht reden. Mir tat es in der Seele weh, wie sie mit ihm redeten. Gönnten sie ihm diese Augenblicke in der friedlichen Stille hier draußen nicht? Wütend wollte ich eingreifen.
"Sei still und beobachte." befahl mir der Johannes streng.
Ich folgte ihnen unauffällig in Johannes kleines Zimmer. Merkwürdigerweise merkten sie wirklich nicht, wie ich leise das Zimmer betrat und mich still in eine Ecke setzte.

Ich war entsetzt wie grob sie einen Menschen anfaßten, von dem ich wußte, daß ihm jede Berührung wehtat. Und ich staunte über die Geduld, mit der Johannes das über sich ergehen ließ. Obwohl ich nur Zuschauer war, hatte ich weit weniger Geduld. Als sie den Kamm holten und damit grob an Johannes Haaren rissen, sprang ich schließlich trotz Johannes Ermahnungen auf und sagte ihnen, daß sie sofort damit aufhören sollten. In Zukunft würde ich den Johannes zu Bett bringen. Sie erschraken ziemlich, denn sie hatten meine Anwesenheit gar nicht bemerkt. Und sie fühlten sich ertappt, weil sie wußten, daß die Erwachsenen sie ausgeschimpft hätten, wenn sie das gesehen hätten.
"Wenn du uns verrätst, verprügeln wir dich!" drohten sie mir.
"Ich will euch nicht verraten. Ich will nur, daß ihr das nie wieder tut und deshalb mache ich das ab jetzt. Und ihr verschwindet. Ich will euch nicht hier sehen!" forderte ich.
Sie lachten mich aus und gingen. Ich weinte vor Mitleid und begann behutsam Johannes Haar zu kämmen. Er schien auf seltsame Art befriedigt, als hätte mein Verhalten ihm einen Verdacht bestätigt. Er berührte mich sanft mit seiner verkrüppelten Hand.
"Sie sind nicht wirklich boshaft. Sie wissen nur nicht, wie sehr sie mir mit ihrem Verhalten wehtun. Im Grunde sind diese Kinder einfach überfordert. Sie sind noch zu jung dazu. Sie müßten mindestens vierzehn sein, um diese Aufgabe erfüllen zu können."
"Aber ich bin doch noch jünger und ich bin gar nicht überfordert!" widersprach ich.
"Jünger ist nur dein Körper. In Wahrheit bist du älter als sie. Viel älter. Du hast mehr Leben gelebt als sie alle zusammen."

Ich starrte ihn erstaunt an. Ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein als andere Menschen. Ich empfand mich als irgendwie älter oder erfahrener, als jeden, den ich kannte außer Josef, der später einmal Jesus sein würde. Deshalb durfte ich an anderen Menschen nicht dieselben harten Anforderungen stellen, wie an mich. Mit Johannes war das anders. Er erschien mir ähnlich wie ich.

Ich konnte mir dieses Gefühl jedoch nicht erklären und habe auch nie darüber geredet, weil die Erwachsenen mich immer für jedes Zeichen von Selbstbewußtsein ausgeschimpft hatten. Das heißt, jedesmal, wenn ich anderer Meinung war als sie und auch darauf bestand, das zu sagen, wurden sie wütend. Aber ich wußte doch ganz genau, daß ich recht hatte.

 

 

Lerne Geistiger Kampf

Am nächsten Morgen schaute ich kurz nach dem Johannes und stellte fest, daß Arid schon dort war und ihm beim Aufstehen half. Die beiden begrüßten mich, baten mich dann aber, sie allein zu lassen, da sie in Ruhe etwas besprechen wollten.

Ich ging in die Kantine und holte mir mein Frühstück. Im Nu war ich von Kindern umringt, die mich als Babysitter verspotteten. Ich starrte sie einfach nur fassungslos an. Dann nahm ich mein Essen, drehte ihnen den Rücken zu und ging hoch zu Jesus Arid und dem Johannes.

"Was machst du denn schon wieder hier? Wir wollten doch allein sein."
Das hatte ich wahrhaftig ganz vergessen. Ich erzählte den beiden, was geschehen war.
"Es wird immer schlimmer. Zu meiner Zeit hätte das nicht passieren können." kommentierte Johannes.
"Was heißt hier zu deiner Zeit? Du lebst doch noch." widersprach Arid.
"Na komm. Was kann ich schon machen, wenn etwas falsch läuft? Ich kann mich hinstellen und böse gucken. Dann fangen die jungen Leute an mich zu verspotten und nach einer Weile kommen drei Jungen und sagen:
Warum hast du dich schon wieder hier versteckt? Weißt du, wie lange wir dich gesucht haben?
und niemand hat mich verstanden. Du kannst es vergessen. Das einzig Sinnvolle, was ich heute hier mache, ist euch Schüler zu unterrichten, die die Gedankensprache beherrschen.
Und du kannst genausowenig tun, Arid. Wenn du hingehst und ihnen Vorhaltungen machst, sagen sie:
"Was, der Feigling will uns etwas sagen?" Und sie lachen dich aus.
Hier ist das Unterste zuoberst gekehrt. Die wahrhaft Großen werden verspottet und erniedrigt und die Engel suchen sich Idioten als Würdenträger unseres Volkes aus." beharrte Johannes "Simon, du solltest Geistiger Kampf mitmachen. Da findest du, was du brauchst.
Und wenn du Kräuterkunde lernen willst, mußt du jetzt gehen."

 

 

Beweis mir das!

Ich ging also zu der Stelle, wo der Kräuterkundelehrer seine Schüler erwartete. Jeder bekam einen kleinen Korb in die Hand gedrückt und kaum war ich dort, gingen wir auch schon los. Ich hielt mich beim Sammeln möglichst dicht beim Lehrer. Er war schließlich derjenige, der all die interessanten Dinge erzählte, die ich lernen wollte. Die anderen Schüler liefen in Grüppchen herum, unterhielten sich leise über verschiedene andere Themen und sammelten nebenher ein paar Kräuter, die in größeren Mengen gebraucht wurden. Sie mußten schließlich auch ihren Korb voll kriegen. Einem älteren Schüler erteilte der Lehrer viel detailliertere Anweisungen. Er mußte seltene Kräuter sammeln und von jeder Sorte meist nur ein, zwei Blatt. Dafür erzählte er ihm die Wirkungsweise all dieser Pflanzen. Abends bekam ich gesagt, daß es nicht in Ordnung sei, daß mein Korb nicht voll war.
"Aber ich wollte doch alles hören, was du sagst und da wo du warst, da waren nicht die Kräuter." sagte ich.
"Was ich sage, ist sowieso noch zu kompliziert für dich. Frag die anderen Schüler."
"Das ist gar nicht wahr! Und die reden über ganz andere Sachen, gar nicht über Kräuter. Ich will das von dir hören." widersprach ich empört.
"Du bist doch noch viel zu jung. Du kannst doch noch gar nicht verstehen, was ich den Älteren erkläre." erklärte er mir.
"Das ist gar nicht wahr. Ich habe alles verstanden!"
Drei vier mal, widersprach ich dem Lehrer noch. Dann gab ich es auf. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ein so kleines Kind wie ich seine Erklärungen vollständig verstehen könnte. Aber ich nahm mir vor, daß ich ihm trotzdem weiter zuhören wollte.

"Du, wo muß ich hingehen, wenn ich geistiger Kampf lernen will?" wechselte ich schließlich das Thema.
"Warum willst du jetzt schon Geistiger Kampf lernen? Das braucht so ein kleines Kind wie du doch noch nicht."
"Der Johannes hat gesagt, daß ich da genau das finde, was ich brauche. Und wenn er das sagt, dann stimmt das." erklärte ich dem Lehrer.
"Der Johannes kann nicht reden!" widersprach er.
"Doch er kann reden. In meinem Kopf." erklärte ich.
"Willst du behaupten, daß du die Gedankensprache beherrscht?" fragte er erstaunt und verärgert "Komm mit und beweis mir das!".
Er führte mich in Johannes Zimmer, das jedoch leer war. An der Tür hing ein von Arid geschriebener Zettel, auf dem stand, daß er beim Lehrer für Geistigen Kampf sei.

"Wenigstens Arid nimmt sich regelmäßig Zeit für den Johannes. Selbst wenn er ein Feigling ist, ist er doch eine liebe Seele." meinte der Kräuterkundelehrer.
Wir gingen dorthin und Johannes war auch dort schon wieder weg. Der Lehrer vermutete, daß der Johannes wieder in sein Zimmer gegangen sei. Wir gingen zurück und fanden ihn tatsächlich dort.
"Johannes, dieser Knirps sagt, er könnte die Gedankensprache. Sag ihm, was ich am Sommerfest mit dir gemacht habe, als du zehn warst."
"Die offizielle Version war, daß du mir bei einem Unfall den Arm gebrochen hast. Die Wahrheit darf ich dem kleinen Simon nicht sagen, denn ich habe dir versprochen, darüber zu schweigen." antwortete der Johannes und ich gab seine Worte laut wieder.
"Ich entbinde dich von deinem Versprechen. Sag es trotzdem."
"Bist du dir sicher? Dann versprich mir, daß du es Simon nicht übel nimmst, wenn er die Wahrheit weiß."
"Ich verspreche es dir. Und nun sag es endlich."
"Der Armbruch war tatsächlich ein Unfall. Doch vorher hatte Jesus Iran mich drei Stunden mittels der Essener-Folter mit Akupunkturnadeln gefoltert." erklärte Johannes und ich gab seine Worte laut wieder.
Jesus Iran, der Lehrer in Kräuterkunde wurde leichenblaß.
"Sag ihm, daß du darüber schweigen wirst. Er war lange mein Vertrauter und hat mir einmal das Leben gerettet, obwohl das für ihn sehr gefährlich war, Simon. Jeder Mensch macht einmal Fehler." befahl der Johannes.
"Jesus Iran. Der Johannes hat über dieses Erlebnis bisher aus guten Gründen geschwiegen. Da ich ihm vertraue, werde auch ich darüber schweigen." sagte ich laut.
Der Lehrer sah mich fassungslos an:
"Du kannst es tatsächlich."
"Ja."
"Warum kannst du das und nicht ich, wo Johannes doch so lange schon mein Freund ist!" fragte er und fühlte sich schrecklich ungerecht behandelt.
Ich umarmte ihn, um ihn zu trösten.
"Ich kann doch für dich übersetzen. sagte ich und fragte den Johannes in der Gedankensprache: "Warum weiß Jesus Iran nicht, daß Arid mit dir reden kann?"
"Wenn die Engel das erfahren, bringen sie Arid um." antwortete der Johannes.
Ich glaubte das unbesehen. Genauso kannte ich die Engel.

 

 

Geistiger Kampf

Beim Unterricht im Geistigen Kampf ging es um Techniken, wie man mit Schmerzen fertig wird. Es ging darum, zu lernen, wie man schwere Foltern erträgt, ohne innerlich allzu sehr darunter zu leiden. Darum, wie man mit Ungewißheit und Bedrohungen umgeht, ohne daran zu verzweifeln. Die Foltern wurden dabei nur in dem Maße angewandt, wie das notwendig war, um die Techniken zur Schmerzbekämpfung erproben und erlernen zu können. Wir übten in Partnerarbeit, waren nicht gefesselt und konnten die Übung jederzeit abbrechen. Es war eine Art Spiel, ein Wettkampf und die Regeln waren so festgelegt, daß körperliche Schäden ausgeschlossen waren. Jede Übung dauerte nur wenige Minuten.

Ich ging also zum Lehrer für geistigen Kampf und nahm an den letzten Minuten des Unterrichts teil. Auch der Lehrer dort war überrascht, daß ich als Vierjähriger an einem Unterricht teilnehmen wollte, den nur diejenigen mitmachten, die beschlossen hatten, die Einweihung machen zu wollen. Die meisten von ihnen waren mindestens zwanzig Jahre alt. Noch überraschter war er jedoch über meine Begründung, daß der Johannes mir das geraten hatte. Glücklicherweise war der Lehrer der Kräuterkunde mitgekommen und konnte ihm das bestätigen. Darauf, das noch einmal zu beweisen, hatte ich wirklich keine Lust.

"Geistiger Kampf wird gelehrt, damit ihr lernt, mit Foltern und Gewalt umzugehen, ohne daran zu verzweifeln. Deshalb besteht der Unterricht auch tatsächlich aus Foltern. Denn den Umgang mit Foltern kann man nur lernen, indem man sich ihnen aussetzt. Im Unterschied zu Foltern, die gemacht werden, um den Willen eines Menschen zu brechen, hast du beim lernen des Geistigen Kampfes aber die Möglichkeit, die jederzeit abzubrechen, so daß du dem nie länger ausgesetzt bist, als du einen solche Folter aushalten kannst. In Wirklichkeit ist das nur Spiel. Echte Foltern sind etwas Anderes, weil du nicht jederzeit ihr Ende befehlen kannst.
Selbst wenn ich dir während einer Übung etwas Anderes einzureden versuche, wirst du nach einer Übung hier nie einen Körperschaden davontragen.
Möchtest du einmal ausprobieren, wie lange du eine Folter aushalten kannst, bevor ich dir die Methoden des Geistigen Kampfes lehre?"
"Ja." sagte ich.
"Gut. Dann leg dich auf die Folterbank und bleibe so lange dort liegen, wie du es aushalten kannst."

Ich legte mich hin. Der Lehrer nahm eine kleine Nadel, wie eine Stecknadel und stach sie an einer bestimmten Stelle in den Körper. Da begann meine ganze Haut zu brennen und zu kribbeln, als wäre sie verbrannt worden. Ich hatte Übung im Stillhalten bei solchen Dingen. Ich blieb unbeweglich liegen. Er setzte eine zweite Nadel und die Schmerzen verdoppelten sich. Ich rührte mich nicht. Von da ab weiß ich nicht mehr, wie genau diese Folter ablief. Ich lenkte mich ab, indem ich den Putz an der Wand betrachtete und mir die Einzelheiten einprägte, als hinge mein Leben davon ab. Das Ganze schien mir ewig zu dauern. Doch ich blieb innerlich ruhig und entspannt und wartete einfach nur ab.

Schließlich hörte es auf. Ich löste mich von meiner innigen Betrachtung der Wand, sah den Lehrer an und fragte:
"Warum hast du aufgehört?"
"Was hast du gemacht, daß du das so lange ausgehalten hast?"
Ich beschrieb meine Vorgehensweise.
"Wo hast du das gelernt?"
"Bei... setzte ich an, die Geschichte mit den Engeln zu erzählen."
Doch die Engel unterbrachen mich, indem sie mich folterten. Und da die Folter aufs Nervensystem geht, konnte ich wirklich nicht sprechen. Ich war ein hilflos zitterndes Bündel. Die anderen bekamen Angst um mich und liefen wirr durcheinander.

Irgendjemand rief Jesus Arid, weil bekannt war, daß er solche Probleme lösen konnte. Die Geschichte, die sie ihm erzählten, war aber so konfus, daß er nicht daraus schlau werden konnte.
"Simon?" wandte Arid sich an meine Gedanken.
"Ja." antwortete ich.
"Was ist?"
"Die Engel haben mich gefoltert."
"Ach so. Warum?"
"Ich habe versucht dem Lehrmeister zu erklären, daß ich den Umgang mit Foltern durch die Foltern der Engel gelernt habe."
"Ach so. Klar. Das versuchst du kein zweites mal. Wenn du jeden, der dir begegnet, davon zu überzeugen versuchst, daß die Engel uns betrügen, wird dir kleinem Kind sowieso keiner glauben. Aber die Engel wissen, daß du die Wahrheit sagst. Und sie foltern dich entweder so lange, bis du dieses Vorhaben aufgibst oder sie bringen dich um, bevor du erwachsen bist. Und dazu bist du für unsere Pläne zu wichtig. Wir brauchen dich noch, damit du helfen kannst, unser Volk vor den Plänen der Engel zu retten.
Lerne schweigen."
Bei diesen Worten klang Arids Geiststimme streng und strahlte eine Macht und Würde aus, die ich von ihm nicht kannte.
Dann sagte er den anderen:
"Das werden wir gleich haben."
Er nahm mich auf den Arm und brachte mich zum Johannes. Der Johannes mahnte mich ebenfalls, mit niemandem über die Engel zu reden, es sei denn in der Gedankensprache. Dann warteten wir einfach ab, bis die Wirkung der Folter von alleine abklang.

Als ich am nächsten Tag zum Frühstück in die Kantine ging, ärgerte mich keiner mehr. Ich hörte, wie sie flüsterten, daß ich mit dem Johannes sprechen könne und deshalb würde er mir alle seine Geheimnisse verraten. Abends beim Zubettgehen erzählte ich dem Johannes davon.

"Sie haben Recht. Genau das werde ich tun." erklärte er "Aber nicht, weil ich dich mag, sondern einfach, weil dieses Wissen nicht untergehen darf und weil du zu den Wenigen zählst, denen ich es vermitteln kann. Und es wird hart. Wir haben zu wenig Zeit, also werde ich bis an deine Grenzen gehen, um dich zu lehren. Manchmal wirst du mich dafür hassen."
"Nein. Ich hasse niemanden." widersprach ich entschieden.
"Auch nicht die Engel?" fragte er.
"Auch nicht die Engel." antwortete ich.
"Das ist gut. Bleib so. Du läßt dich auf dem Heilerweg ausbilden. Nicht die Römer sind unsere wahren Feinde sondern die Engel. Und gegen die sind unsere hochwertigen Schwerter bedeutungslos. Sie haben Waffen, mit denen sie uns aus über hundert Metern Entfernung erschießen könnten, wenn sie wollten. Und du redest mit niemanden über die Engel. Nur mit mir oder Arid und nur in der Gedankensprache. Verstanden?" sagte er.
Ich nickte ernst. Seine Gedanken erschienen mir sehr vernünftig.

 

 

Der Sohn des Johannes

Die neue Hochachtung hielt nicht lange vor. Die Geheimnisse Karmels waren Geheimnisse. Ich bekam sie erklärt und zu sehen. Doch selbst wenn ich es gewollte hätte, hätte ich sie niemandem verraten können, denn erstens kannte niemand die Bedeutung der zugehörigen Worte und zweitens waren sie nicht hellsichtig genug, um zu sehen, was ich sehen lernte. Außerdem war das Ganze einfach nicht so spektakulär, wie sie es sich vorstellten. Also kamen sie nach und nach zu dem Ergebnis, daß ich doch nichts Besonderes lernen würde. Außerdem war ich schweigsam und hängte mich an die Lehrer, um den Unterrichtsstoff möglichst vollständig mitzubekommen. Das wurde mir als kindliche Anhänglichkeit ausgelegt.

Eines Tages kam ich abends wieder in das Zimmer des Johannes und dort war ein Junge, den ich nicht kannte. Er drehte sich zu mir um, bezog mich beiläufig in seine Verbindung zum Johannes mit ein und fragte:
"Ist er das?"
"Ja." antwortete der Johannes.
Der Junge musterte mich fast eine Stunde lang wortlos. Es war eine ruhige, freundliche Aufmerksamkeit. Da ich keine Lust hatte, so lange sinnlos in der Gegend herumzustehen, setzte ich mich neben den Johannes öffnete dem Jungen meinen Geist und wartete ruhig auf das Ergebnis der Musterung. Er teilte es mir nicht mit.

Dann half er dem Johannes wortlos hinaus zu dem Platz, von dem aus wir immer den Sonnenuntergang beobachteten. Wieder saßen wir lange schweigend zusammen. Schließlich ging ich zu Bett, ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Am nächsten Morgen beim Frühstück sah ich ihn wieder. Er erkannte mich sofort, lächelte mir strahlend zu und sagte zu dem alten Mann, der neben ihm am Frühstückstisch saß:
"Das ist der Schüler des Johannes. Eine alte Seele. Komm, setz dich zu uns, Simon."
Ich ging hin und setzte sich auf seinen Schoß. Bei ihm fühlte ich mich wirklich geborgen. Wie bei dem Johannes. Der Begleiter des Jungen sprach mich in der Gedankensprache an:
"Du beherrscht die Gedankensprache?"
"Ja."
"Wie geht es dem Johannes?"
Ich frage mich, was ich darauf antworten sollte. Ich dachte an die vielen Stunden, die ich mit dem Johannes verbrachte, an die Gespräche wie zwischen Erwachsenen. Nur an seinen Schmerzen ließ er mich nicht teilhaben, weil mir das geschadet hätte. Aber ich wußte, daß er Schmerzen hatte, pausenlos. Ich dachte an die Albernheiten und Scherze, die er immer wieder machte, an sein Lachen, das so oft von einem schmerzerfüllten Zusammenzucken unterbrochen wurde, daran, wie er mich mit immer neuen Tricks dazu brachte, seinem ständigen Unterricht weiterhin aufmerksam zu folgen, obwohl mir vor Müdigkeit die Augen zufallen wollten. Ich dachte an die Augenblicke der Ruhe, daran, daß ich ihn immer wieder hatte weinen sehen und als ich ihm etwas von meiner Energie hatte schenken wollen, sein bissiger Kommentar, daß das seine Schmerzen seien, die dürfe ihm niemand wegnehmen. Ich wußte, das sollte ein Scherz sein. Es klang nur nicht lustig. Und dann die ernste Erklärung, daß ein Kind NIEMALS, NIEMALS einem Erwachsenen Energie schenken darf. Sonst kann es nicht richtig erwachsen werden.
Die beiden bekamen meine Gedanken mit.
"Vater trägt sein Schicksal tapfer, auch wenn es fast über seine Kräfte geht." stellte der Junge fest.
Jetzt wußte ich wer er war. Das war der Sohn, von dem mir der Johannes immer so gerne und liebevoll erzählt hatte.
"Als wir das letzte mal hier waren, haben sich die Männer fast pausenlos über ihn beschwert. Sie sagen, der Johannes sei viel vernünftiger geworden, seit der Junge sich abends um ihn kümmert." meinte der ältere Mann.
"Wenn sie so leben müßten, dann wären sie auch nicht vernünftig!" meinte ich.
"Stimmt. Es hat sich einfach niemand die Mühe gemacht, meinen Vater lange genug zu beobachten, um zu wissen was er braucht oder will. Also mußte er sich selber darum kümmern, wenn Arid wieder einmal in seinem Auftrag unterwegs war, um irgendetwas Wichtiges zu erledigen oder mich über die Vorgänge auf dieser Burg zu informieren.

"Daß mein Vater jetzt weniger Ärger mit ihnen hat, zeigt, daß du dich gut um ihn kümmerst - und das, obwohl du gleichzeitig so viel lernst, daß es für drei reicht. Das habe ich nie geschafft." erklärte der Junge.

"Wenn ich das nicht mache, macht es niemand richtig. Sie behandeln ihn wie einen Schrank, den man in die Ecke stellt und sie wundern sich, daß er dann nicht sinnlos in der Ecke stehenbleibt, wie man das von Schränken erwartet." sagte ich, zornig darüber, wie wenig es diese Männer interessierte, wie sich der Johannes in dieser Situation fühlen mochte.
"Du mußt bedenken, daß sie seine Gefühle nicht wahrnehmen können. Sie sehen nicht, wer er eigentlich ist." antwortete mir der Sohn des Johannes besänftigend.
"Aber das kann ich mir doch nicht einfach mit ansehen..." sagte ich und erzählte dem Sohn des Johannes, wie die Jungen am ersten Tag mit dem Johannes umgegangen waren.
"Ich weiß. Ich weiß. Ich habe das auch schon gesehen. Die Kinder sind mit der Aufgabe, sich um einen Mann zu kümmern, der nicht einmal mit ihnen reden kann, einfach maßlos überfordert. Ich habe versucht die Verantwortlichen dazu zu überreden, daß sie ältere Kinder dafür einsetzen. Arid hat es auch versucht. Aber niemand hat sich für unsere Worte interessiert. Da muß sich der Johannes einfach damit abfinden. Und er ist innerlich stark genug, um damit fertig zu werden. Manchmal hat man einfach nicht die Macht, die Dinge in Ordnung zu bringen." Ich dachte an meine Erfahrungen mit Engeln und nickte. Mit manchem muß man sich einfach abfinden. Wenn es doch nur nicht so viele solche Dinge gäbe.

 

 

Ein Schüler für den Johannes

Ausbildung in Karmel

Neben den medizinischen Fächern Heilpflanzenkunde, Anatomie, Chirurgie, Chemie (umfaßte auch das Wissen über kalte Fusion - wir konnten also sozusagen tatsächlich Stein in Gold verwandeln), Chiropraktik (Massagen und einrenken von Gelenken), Pathophysiognomie (lesen des Gesundheitszustandes aus Gesicht, Händen, Iris, allgemeinem Körperbau), Geomanthie (Wünschelrutengehen und verwandte Wissensgebiete), Reinkarnationstherapie, Telepathie, Heilung über die Feinstofflichen Körper (z.b. Gesundbeten, Handauflegen oder Reiki), lernte ich auch Allgemeinbildendes wie Geschichte, Sternenkunde (Astrologie und Astronomie), Physik, Religionen und Sitten anderer Länder, Sprachen, Magie. Nur die Fächer des Kriegerweges: bewaffneter und unbewaffneter Kampf, Taktik und Strategie in der Schlacht, Waffenkunde; lernte ich nicht. Das Fach Geistiger Kampf hatte ich belegt.

Ich lernte, als hinge mein Leben davon ab, weil der Johannes das von mir forderte. Die meisten Lehrer Karmels waren zu naiv, um die Gefahren, die mir und dem gesamten Orden drohten, auch nur zu erkennen, geschweige denn, richtig einzuschätzen. Wer so mit seinen Verbündeten umgeht, wie die Engel, den hat man lieber zum Feind, als zum Verbündeten. Die Wahl hatten wir leider nicht. Wir mußten sie unsere Verbündeten nennen, wenn sie uns nicht sofort umbringen sollten. Die Lehrer bewunderten meine Leistungen, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß derart übertriebener Eifer eigentlich ein Warnzeichen ist. Er zeigte, daß ich mich hochgradig bedroht fühlte und es war tatsächlich mein Versuch, mir durch dieses Lernen irgendeine Chance im Leben erkämpfen zu wollen.

 

 

Finde den richtigen Schüler für mich

Ich war fünf. Eines Tages gingen einige Männer zu einem nahegelegenen Sklavenmarkt, um dort nach neuen Kindern für die Schule von Karmel zu suchen. Johannes hatte mir und Arid jeweils etwas Geld gegeben, mit dem Auftrag, den richtigen Schüler für den Johannes zu finden. Also schlenderten wir beiden über den Sklavenmarkt und sahen uns die Kinder dort an. Ich betrachtete aufmerksam ihre Körperhaltung. Die meisten waren entmutigt und gleichgültig. Ein Junge schielte unauffällig neugierig zu mir hoch. Ich lächelte ihm zu und versuchte mit seinen Gedanken Kontakt aufzunehmen:
"Hallo?"
Er antwortete nicht.
Ich ging weiter. Wenige Sekunden später wechselten die anderen Männer des Ordens ein paar Worte mit ihm, er stimmte dem Kauf zu und sie kauften ihn dann.

Ein kleines Mädchen saß still da, das Gesicht mit einem träumerischen Ausdruck einem Baum zugewandt. Ich trat näher und spürte wie viel Ruhe von diesem kleinem Kind ausging. Ich nahm Verbindung mit seinem Geist auf und dachte ihm zu:
"Hallo?"
Es fuhr zu mir herum und starrte mich plötzlich hellwach und aufmerksam an. Ich und wiederholte meinen Gruß und lächelte:
"Bist du ein Geist?" fragte sie mich.
"Nein. Ich suche nur jemanden, der fähig ist, von einem stummen Mann zu lernen. Deshalb spreche ich dich in Gedankensprache an. Willst du von dem Johannes die Geheimnisse der Essener lernen?" fragte ich sie.
"Ja." antwortete sie.
"Gut. Dann werde ich dich kaufen, damit wir nicht ein Haufen Römer auf den Fersen haben, wenn wir nach Karmel zurückkehren. Magst du den Sonnenuntergang?"
"Ja. Es ist eine so schöne, friedliche Zeit."
"Dann hast du mit dem Johannes etwas gemeinsam. Ich schaue ihn jeden Abend zusammen mit dem Johannes an." sagte ich.

Ich kaufte also ein kleines Mädchen und verstieß damit gegen alle Gepflogenheiten Karmels. Es ist nicht so, daß wir etwas gegen Frauen hätten. Nur gibt es halt Schulen für Frauen und es gibt Schulen für Männer bei den Essenern. Maria war in einer Schule für Frauen ausgebildet worden. In Karmel wurden Jungen ausgebildet. Außerdem war sie zu jung. Nach Ansicht der Essener ist ein Kind von zwei Jahren so jung, daß es durch eine Trennung von den Eltern so erheblichen Schaden in seiner Seele nimmt, daß es nicht mehr gesund heranwachsen kann. Ich aber spürte ihre ruhige ausgeglichene Aura und wußte, daß sie eine seelisch gesunde Erwachsene werden würde.

Nachdem die geschäftlichen Dinge abgewickelt waren, nahm ich das Mädchen an die Hand und suchte Arid. Er hatte einen fünfjährigen Jungen gekauft. Ich versuchte mit seinem Geist Kontakt aufzunehmen und schaffte es nicht, dann nahm ich mit Arids Geist Kontakt auf und fragte ihn, warum er diesen Jungen genommen hätte.
"Er kann doch die Gedankensprache nicht."
"Es ist schwierig, den Kontakt zu ihm herzustellen. Aber mir ist es einmal gelungen und dann wird Johannes das auch schaffen. Er wird es lernen, bevor ein Monat um ist." erklärte Arid.
"Warum hast du ein Mädchen gekauft?" fragte Arid.
"Wie heißt du?" fragte ich das Mädchen.
"Maria." antwortete sie.
"Frag Arid etwas in der Gedankensprache. Egal was. Es darf auch ruhig unverschämt oder unhöflich sein."
"Du, warum hast du keinen Bart?" fragte sie Arid.
Ich mußte lachen, weil das genau die Frage war, die ich Arid auch zuerst gestellt hatte. Er erzählte ihr dieselbe Geschichte, wie mir. Sie lösten den Kontakt zu ihm und dachte mir zu:
"Das stimmt nicht. Es waren nicht die Römer."
"Sag es ihm." ermutigte ich sie.
Sie wiederholte Arid dieselben Worte.
"Stimmt. Aber das ist die Geschichte, die du laut sagen darfst. Wenn du die Wahrheit wissen willst, mußt du zuerst schweigen lernen." antwortete Arid.
Wieder löste sie den Kontakt zu Arids Geist und sagte mir:
"Es waren Menschen, die aus fliegenden Schiffen kamen."

Ich war erstaunt. Das ergab Sinn. Das war der Grund, warum mir Arid die Geschichte mit den Engeln sofort geglaubt hatte.
"Mir hat er dieselbe Geschichte erzählt wie dir. Aber ich glaube, du hast recht. Diese Menschen werden bei uns Engel genannt. Du wirst merken, daß die meisten Essener Engel für gut halten. Das stimmt nicht. Ich habe da selber einiges Schlechte erlebt. Aber du mußt wirklich schweigen über das, was du weißt. Die Engel sind sehr böse. Sie würden dich töten. Du darfst Johannes nur in der Gedankensprache davon erzählen."
Mir kam ein Gedanke.
"Die Engel haben den Johannes so schrecklich gefoltert, nicht wahr?" dachte ich Arid zu.
Er warf mir einen hellwachen Blick zu und verweigerte eine Antwort. Da wußte ich, daß ich recht hatte.

Da die anderen Kinder, die wir mitnahmen, mindestens viereinhalb Jahre alt waren, trug ich die kleine Maria am Ende ein langes Stück, weil sie so müde war.

 

 

Du hast alle Regeln gebrochen

"Du hast aber auch alle Regeln gebrochen." dachte Johannes mir schmunzelnd zu, als er sah, wen ich mitgebracht hatte.
"Ich habe eine Schülerin für dich gefunden, keinen Schüler für Karmel." antwortete ich.
"Und warum ist das eine Schülerin für mich?"
"Frag sie selbst."
Johannes sah mich erstaunt an und führte dann ein Gedankengespräch mit ihr, von dem ich nichts mitbekam.

Sie zog ihr Kleid aus und sah dabei - starr - aus.
"Was ist los?" dachte ich ihr zu und schloss alle anderen aus unserer Verbindung aus.
"Ich hätte nicht gedacht, daß der Johannes so etwas macht."
Mein Geist war ein einziges Fragezeichen. Sie schickte mir ein Bild von einer Vergewaltigung, die ein anderer an ihr begangen hatte. Ich kannte nicht einmal das Wort für Vergewaltigung oder Kindesmißbrauch.
"So etwas tut der Johannes nicht." sagte ich.
"Aber ich soll mich doch ausziehen!"
Dann sah ich ihren Rücken, starrte die vielen Striemen darauf entsetzt an und wußte, was er wirklich vorhatte.
"Maria, er will deinen Rücken heilen. Wenn du ihn läßt, ist von diesen Striemen in fünf Minuten nichts mehr übrig." erklärte ich.
"Meinst du?"
"Ich bin mir sicher. Leg dich hin und probier es aus." dachte ich ihr entschieden zu.
Sie schaute mich mit einem Lächeln an, das nur aus Unsicherheit bestand und tat was ich sagte. Es dauerte länger als fünf Minuten, weil der Johannes zuerst einige innere Verletzungen heilte, die durch den Kindesmißbrauch hervorgerufen worden waren. Als er fertig war, schlief sie ein und ich trug sie in ihr neues Zimmer. Ich war mir sicher, daß der Johannes sie mochte.

Dann setzte ich mich wieder zu Johannes und behauptete grinsend:
"Nicht wahr, das ist die schrecklichste Schülerin, die du dir vorstellen kannst!"
"Nein. Du hättest niemanden finden können, der besser geeignet ist." antwortete Johannes.
Er richtete seinen Blick auf mich und betrachtete mich so tiefnachdenklich, daß ich mich wirklich fragte, was an mir so interessant sein könnte, daß der Johannes eine geschlagene Stunde überlegen mußte und immer noch zu keinem Ergebnis kam. Ich fragte ihn, doch er antwortete einfach nicht. Schließlich bat er mich, den Raum zu verlassen, da er noch Einiges mit Arid zu besprechen hätte. Ich gehorchte.

Am nächsten Tag schlich ich noch vor dem Frühstück zu dem Zimmer der kleinen Maria. Ich war bestimmt sehr leise, doch sie bemerkte mich trotzdem, kam heraus und fragte mich, wann denn jemand kommen würde und ihr sagen würde, was sie als Nächstes tun müßte.
"Nie." antwortete ich ihr "Das mußt du schon selbst entscheiden. Was willst du denn jetzt tun?".
"Ich habe Hunger."
"Ich gehe gerade frühstücken. Wenn du willst, kannst du mitkommen."
Wir gingen also zusammen in die Kantine.

"Na? Was hat der Johannes zu deinem Kauf gesagt?" fragte jemand hämisch.
"Er war zufrieden." antwortete ich.
"Oder wollte er dir bloß nichts Schlechtes sagen?" fragte er hämisch weiter.
"Er war zufrieden." wiederholte ich meine Worte.
"Das kannst du dir nur leisten, weil er dir nicht widersprechen kann!" meinte jemand.
"Du kennst den Johannes nicht." stellte ich fest.

 

 

"Ich werde sterben"

Bevor ich acht Jahre alt war, hatte ich mich in allen Bereichen der Heilkunde prüfen lassen, ob ich das Grundwissen besaß. Ich wurde danach zum Lernen meist zehn Jahre älteren Männern zugeteilt. Neben den in Karmel aufgewachsenen Waisen, gab es hierbei einige, die in Dörfern des Ordens von den dortigen Jesussen gelernt hatten. Hier sollte ihre Ausbildung nur noch den letzten Schliff bekommen. Seit ich etwa zehn war, bekam ich von den Erwachsenen immer öfter Sonderaufgaben zugeteilt, für die das Wissen der anderen Schüler nicht ausgereicht hätte.

Jeder Schüler wählt sich einen der Lehrmeister als Tutor aus und läßt sich von ihm über die Auswahl seines Stoffes beraten. Ich hatte mir den Johannes gewählt.

Ich war elf Jahre alt. Einmal, als ich dem Johannes wie jeden Abend half, sich auszuziehen sagte er:
"Morgen kommt mein Sohn. Dann werde ich seine Königseinweihung vornehmen und bin endlich frei zu sterben."
"Aber ich will nicht, daß du stirbst!" widersprach ich bestürzt.
"Simon, ich habe ständig Schmerzen und das ist mit den Jahren allmählich immer schlimmer geworden. Ich habe täglich stundenlang meinen Körper geheilt und trotzdem konnte ich das nicht aufhalten. Um die Königseinweihung muß ich mich noch selber kümmern. So lange bin ich noch da. Aber dann will ich endlich Frieden haben. Ich habe keine Geduld mehr, diese Schmerzen noch länger zu ertragen."
Ich konnte das verstehen. Dennoch mußte ich weinen, bei der Vorstellung, daß ich dann nie wieder mit ihm den Sonnenuntergang beobachten würde.

 

 

Johannes Sohn

Am nächsten Tag war der Johannes den ganzen Tag nicht für mich zu sprechen. Erst am Abend ließ er mich zu sich rufen. Neben ihm saß schweigend ein junger Mann. Ich lächelte dem Johannes zu und fragte:
"Ist das dein Sohn?"
"Ja. Merk dir seine Ausstrahlung. Ihm kannst du vertrauen und Arid kannst du vertrauen. Alle anderen sind zu naiv. Komm, laß uns hinausgehen, den Sonnenuntergang betrachten."
Ich ging mit und betrachtete nachdenklich den jungen Mann, der bisher in meiner Gegenwart noch kein Wort gesagt hatte. Weder in der Gedankensprache noch anders. Es war lange her, daß ich ihn zuletzt gesehen hatte. Der Sohn des Johannes war pausenlos im Land herumgereist und hatte sich um alles gekümmert, worum sein Vater sich nicht mehr kümmern konnte, weil er zu krank war. Wenn er mal da war, hatte er nur kurz seinem Vater berichtet, der dann nicht für mich zu sprechen war. Dann setzten wir uns auf die Bank, von der aus wir uns jeden Abend den Sonnenuntergang betrachtet hatten und der Sohn des Johannes nahm mich schweigend in den Arm. Ich mochte ihn. Aber während des Sonnenuntergangs dultete der Johannes überhaupt keine Gespräche, so daß wir noch länger zusammensaßen ohne ein Wort zu wechseln.

Schließlich, als ich dem Johannes wie jeden Abend die Haare kämmte, sagte der Sohn zu mir:
"Du liebst ihn sehr."
"Ja."
"Du willst ihn nicht gehen lassen."
Ich weinte. Ein Leben ohne den Johannes war einfach eine schreckliche Vorstellung für mich.
"Sag mir, was dir daran so schrecklich erscheint."
"Dann habe ich ja gar niemanden mehr!" protestierte ich.
"Niemanden?"
"Na, ja, da ist noch Arid."
"Was hältst du von Arid?"
"Er ist, na eigentlich ist er ganz lieb. Aber er ist einfach nicht der Johannes."
"Nein, natürlich nicht. Ist es immer noch so schrecklich, daß der Johannes gehen will?"
Ich weinte:
"Er ist der liebste Mensch, den ich kenne!"
"Willst du ihn wirklich dazu verdammen, weiterhin solche Schmerzen zu haben, nur damit du ihn für dich haben kannst? Darf er wirklich nicht sterben?"
Ich weinte, weil ich merkte, daß er recht hatte. Es war Unrecht, daß ich dem Johannes das Sterben verbieten wollte. Der Sohn des Johannes streichelte mich.
"Ich bin auch traurig, daß er stirbt. Er ist schließlich mein Vater. Und er ist der beste Vater, den ich mir hätte wünschen können." erklärte er mir.
Das war das letzte Gespräch des Tages.

Am nächsten Morgen wachte der Johannes nicht wieder auf. Wir bereiteten die Beerdigung vor. Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß all die Menschen, die sich die letzten Jahre nicht um den kranken Johannes gekümmert hatten, nun plötzlich um den toten Johannes als ihren geistigen Herrn trauerten. Und daß sie jetzt plötzlich alle alte Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis kramten, um zu erklären, wie sehr sie ihn liebten. Und - es war, wie ich spüren konnte, sogar ehrlich gemeint. Es ist wohl einfach so, daß sie schlichtweg durch die Situation überfordert gewesen waren. Sie wußten einfach nicht, wie sie damit umgehen sollten, daß der Johannes einerseits ihr geistiges Oberhaupt war, der ihnen den rechten Weg zu weisen hatte und daß er andererseits aber gar nicht sprechen konnte. Sie wußten nicht, wie sie Freundschaften pflegen sollten, mit Menschen, die ihr Gesicht nicht einmal gut genug unter Kontrolle hatten um auch nur zu lächeln, geschweige denn zu sprechen. Und so waren sie weggeblieben. Sie alle äußerten die Überzeugung, daß es für das Land ein Segen gewesen wäre, wenn der Johannes sein ererbtes Amt wirklich hätte ausüben können.

In unseren Augen stellte sich die Situation ganz anders dar. Für den kleinen Kreis um den Johannes, der die Gedankensprache beherrschte, hatte der Johannes sein Amt voll ausgeübt. Wenn sein Sohn im ganzen Land umherzog, um Ratschläge zu erteilen oder sich um anliegende Probleme zu kümmern, tat er das im Auftrag seines Vaters, erstattete nachher zuhause Bericht und hörte sich die Kritik seines Vaters dazu an. Die kleine Maria und ich hatten ihn immer als unseren wichtigsten Lehrer betrachtet. Arid versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Vorstellungen des Johannes in der Schule von Karmel umzusetzen. Und wenn ich sie auch nicht kannte, wußte ich daß Pläne existierten, die noch weitaus weiter in die Zukunft reichten.

 

 

Einweihung

Als ich vierzehn war, rief mich Jesus Arid schließlich in sein Zimmer, weil er mit mir reden wollte. Sein Zimmer war genauso klein wie meines und genauso einfach ausgestattet, so daß ich, um mich setzen zu können, meinen eigenen Stuhl mitbringen mußte.

"Dir ist vielleicht schon aufgefallen, daß es uns in den letzen Jahren immer schwerer gefallen ist, noch angemessenen Lehrstoff für dich zu finden. Letzte Woche habe ich mich mit dem Johannes besprochen und uns ist nichts mehr eingefallen, das dir noch beizubringen, sich lohnen würde.
Es ist Zeit, daß du außerhalb Karmels auf eigene Verantwortung arbeitest. Deshalb solltest du jetzt die Einweihung machen. Die anderen fanden dich zu jung, aber ich bin überzeugt, daß du bestehen wirst.
Ich werde den Johannes bitten, daß er deine weitere Ausbildung übernimmt. Er ist ein Schüler von mir und wird mir den Gefallen sicher tun." erklärte mir Jesus Arid.
"Aber die anderen sind doch mindestens 23 oder 24 wenn sie eingeweiht werden!" sagte ich erstaunt. "So ist es. Sie brauchen diese Zeit, um so weit zu kommen. Die meisten brauchen noch zehn oder zwanzig Jahre länger. Du bist mit 14 fertig."
"Jesus, warum machen deine Schüler eigentlich alle die Einweihung und die Schüler der anderen Lehrmeister gehen fast alle weg und werden einfache Essener oder verlassen sogar den Orden?" stellte ich eine Frage, die mich schon lange beschäftigt hatte.
"Ich bin ein unbequemer Mensch, Simon. Ich stelle an meine Schüler harte Anforderungen, konfrontiere sie mit unbequemen Wahrheiten, schimpfe mit ihnen. So lernen sie zwar am meisten - vor allem sich gegen unbequeme Menschen zu behaupten," bei diesen Worten lächelte Arid verschmitzt "aber es ist nicht gerade einfach, mit mir auszukommen. Auch Kinder stellen sich schon die Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Die meisten wünschen sich einfach ein schönes Leben mit angenehmen Kameraden. Die kommen nicht zu mir. Ich bin nicht angenehm. Andere wollen Ansehen erringen. Die kommen auch nicht zu mir, denn ich habe einen eher zweifelhaften Ruf. Doch ein paar wollen wirklich lernen und zu ehrenhaften Menschen heranwachsen. Die kommen zu mir. Das kann man bei mir lernen. Nach Abschluß der Lehre wird den Schülern die Frage gestellt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Wieder haben sie die Freiheit zwischen diesen drei Möglichkeiten zu wählen. Ein schönes Leben mit angenehmen Kameraden kann sich jeder einfache Essener aufbauen - und mit unserer erstklassigen Ausbildung bekommt jeder, der sich die notwendige Arbeit macht, in der normalen Gesellschaft so viel Ansehen, wie er sich wünscht. Doch die dritte Möglichkeit besteht darin, für den Rest des Lebens auf Besitz zu verzichten, der über das für Arbeit und Leben notwendige hinausgeht. Du darfst für den Rest des Lebens keinen Schmuck tragen. Dein Haus darf nur einen Raum haben und du mußt dem einfachen Volk mit deiner Arbeit dienen. Du bekommst überall die schwierigste oder gefährlichste Aufgabe zugeteilt. Dir wird immer das Schwerste zugemutet. Dafür wirst du auch jederzeit ausreichend von der Gemeinschaft versorgt. Wir Heilige der Essener werden zwar hoch geachtet. Aber Belohnungen bekommen wir nicht." Arid wechselte in die Gedankensprache "Für dich persönlich heißt das außerdem, daß du zum Gefolgsmann des Königs-Jesus wirst. Das heißt, die Engel werden dich dein ganzes Leben überwachen und eventuell sogar foltern, wenn deine Entscheidungen ihnen nicht genehm sind." dann fuhr er wieder laut fort: "Nimm dir ein paar Tage Zeit für deine Entscheidung."
"Das ist nicht notwendig. Ich mache die Einweihung." auch ich wechselte in die Gedankensprache "Ich überlasse die Politik nicht den Schwachen und Naiven." antwortete ich entschieden.

Arid warf mir einen erstaunten Blick zu. Diese Worte erfüllten ihn mit ganz neuer Hochachtung vor mir. Arid kannte mich gut. Doch auch ihm war nicht klar gewesen, worüber ich mir alles Gedanken gemacht hatte. Als Gefolgsmann des Königs-Jesus hatte ich vielleicht die Möglichkeit, den Hochgeweihten Rat, der den Orden regierte, von den Schwächen der Engel zu überzeugen. Oder den Königs-Jesus.

"Gut. Dann bereite ich alles vor. Warte hier."
"Das geht aber schnell." dachte ich erstaunt.
Jesus Arid verließ den Raum und verriegelte die Tür hinter sich, so daß ich gefangen war. Mir war bisher noch nicht aufgefallen, daß sie zu verriegeln ging. Ich sah zum Fenster und mir wurde zum ersten mal so richtig bewußt, daß es vergittert war. Ein Gefängnis. Ich rief mir meine eigene Zelle ins Gedächtnis und mir wurde bewußt, daß sie sich ebenso dazu eignete, mich darin einzusperren. Es gab auch dort einen Riegel. Ich hatte ihn nur für eine Verzierung gehalten. Und es war, nebenbei gesagt, keine sehr schön eingerichtete Zelle. Mir fiel auf, daß es unten in der Tür eine Klappe gab, durch die man dem Gefangenen das Essen reichen konnte. Auch eine eigene Latrine war vorhanden. Und es gab einen in die Wand eingelassenen Ring, den man verwenden könnte, um Gefangene daran festzuketten. Die vier Löcher in der Wand des Bettes waren dazu geeignet die Arme und Beine des Gefangenen darin festzuklemmen, so daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Ich betrachtete die Scharniere der Tür. Im verriegelten Zustand ließ sie sich nicht aus den Angeln heben.

Ich staunte, daß ich Jahre in einem Zimmer gelebt hatte, ohne daß mir all diese Dinge je aufgefallen waren. Was dachten sich die Essenerführer dabei, uns symbolisch in ein Gefängnis zu sperren? Denn benutzt wurden diese obskuren Einrichtungsgegenstände meines Wissens nicht. - Außer, wie ich gerade festzustellen im Begriff war, bei der Einweihung.

Vor der Tür näherten sich Schritte. Es wurde entriegelt und der Lehrmeister des Folterns öffnete, der uns im Fach Geistiger Kampf unterrichtet hatte. Er hatte Ketten dabei und zwei Männer, die ich nicht kannte. Ich sah ihn erstaunt an und stand dann zögernd auf, um ihn entgegen zu gehen. Da packte er mich hart am Oberarm und warf mich über seine Beine zu Boden. Dort wurde ich mit ein paar schnellen Griffen in Ketten gelegt und grob wieder auf die Beine gestellt.
"Du kannst natürlich jederzeit aufgeben, wenn dir das Brot eines Eingeweihten zu hart ist." sagte er schroff.
"Ich habe nicht die Absicht dazu." entgegnete ich und eine seltsame Ruhe erfüllte meinen Geist.
Er führte mich in die Folterkammer, die ich schon vom Unterricht her kannte und schnallte mich an der Folterbank fest.

Jetzt wurde ich zwei Stunden ohne Unterlaß gefoltert. In regelmäßigen Abständen wurde ich gefragt, ob ich nicht doch lieber ein einfacher Essener werden wolle. Ich lehnte jedesmal ab. Nach und nach wurde ich wütend und brüllte den Lehrmeister am Ende an, er könne von mir aus machen, was er wolle, aber ich würde bestimmt nicht von meinem Plan ablassen, ein Eingeweihter zu werden. Er lachte und machte noch eine halbe Stunde weiter. Mir wurde bewußt, daß ich die Kontrolle über mich verloren hatte und ich zwang mich, innerlich wieder ruhig und entspannt zu sein, bis er mich schließlich von der Folterbank aufstehen ließ.
"Morgen geht es weiter." sagte er, brachte mich in mein eigenes Zimmer und kettete mich am Ring fest. Es gab nichts zu essen, nur Wasser. Nachdem ich getrunken hatte, legte ich mich auf mein Bett und versuchte meinen zitternden und schmerzenden Körper zu entspannen. Es gab keine sichtbaren Verletzungen. Nur das Nervensystem war überreizt.

Ein Jesus, Mitglied der Führungsschicht der Essener, erfährt auch Geheimnisse, von denen das Leben vieler Menschen abhängt. Deshalb wird in den Einweihungen überprüft ob der zukünftige Jesus die Standhaftigkeit besitzt, auch unter Folterqualen ein Geheimnis zu wahren.

Als er am nächsten Tag wiederkam, begann mein Körper ohne mein Zutun zu zittern. Doch die zweistündige Folter hielt ich diesmal besser durch. Am dritten Tag lief es ähnlich.

Nach der dritten Folter wurde ich in den Keller geführt. In einem abgelegenen Gang wurde eine Falltür geöffnet, man befreite mich von den Ketten und ließ mich dort hinunter. Mir wurde gesagt, daß ich den Weg in die Freiheit finden müsse und daß ich, falls es mir nicht gelänge, spätestens in drei Tagen befreit würde. Dann verschlossen sie die Falltür hoch über mir und ließen mich allein. Ich setzte mich auf den Boden und dachte nach.

Tatsächlich war diese Prüfung einfach zu bestehen, denn jeder Schüler Karmels hatte die nötigen Fähigkeiten gründlich erlernt. Dennoch gab es viele, die an diesem Teil der Prüfungen scheiterten, weil sie nach den Foltern im Dunklen alleingelassen einfach in Panik gerieten und den Kopf verloren. Sie blieben vor Angst erstarrt im ersten Raum des Irrgartens sitzen oder irrten von Raum zu Raum - es waren nur 17 - prügelten auf die Wände ein, aber wagten es nicht, durch den langen, engen Gang zu kriechen, der sich als der Ausweg erwiesen hätte, wenn sie es nur versucht hätten.

Ich ging mit traumwandlerischer Sicherheit den geraden Weg und erfuhr erst nachher von den Problemen, die viele damit hatten. Etwas unterhalb der Burg gelangte ich ins Freie. Es herrschte heller Sonnenschein.

 

 

Abschied von Jesus Arid

Ich ging zum Burgtor und bat um Einlaß. Der Führer der Wache verneigte sich vor mir und sagte:
"Wenn ihr mir bitte folgen würdet, junger Jesus." und führte mich zu meinem Lehrmeister Jesus Arid, der mich strahlend begrüßte:
"Das ging aber schnell. Ich dachte mir, daß du gut abschneiden würdest. Jetzt mußt du nur noch nach Jerusalem zur Prüfung. Das ist eine reine Formalität. Noch niemand, der hier ausgebildet wurde, ist daran gescheitert. Aber wir haben beschlossen, daß unsere Priester auch vom falschen Priester in Jerusalem anerkannt sein sollen, damit niemand bezweifeln kann, daß wir besser sind, als diese halbausgebildeten Schriftgelehrten, die heute dort geprüft werden und zufrieden sind, wenn sie drei Bücher gelesen haben. Dein Vater hat gebeten, dich dorthin geleiten zu dürfen. Ich habe dieser Bitte stattgegeben. Ich hoffe das war in deinem Sinne?"
"Ja. Rein theoretisch hat ein Jesus zwar keine Familie als das Land, aber dennoch sind die Menschen, die mich geboren haben, doch die, mit denen mich die meiste Liebe verbindet."
Arid nickte lächelnd. Er hatte keine Eltern. Manchmal fragte ich mich, ob diese Regel wohl von den vielen Waisenknaben Karmels erfunden worden war, die einfach eifersüchtig auf Kinder mit echten Eltern waren. Arid neigt nicht zu Eifersucht. Ich kenne kaum einen Menschen, der so sehr in sich selber ruht, wie er.

"Immerhin weiß ich jetzt, warum sich so viele Menschen während der Prüfung überlegen, daß sie doch lieber kein Jesus werden wollen." kommentierte ich.
Jesus Arid lachte und sagte:
"Übrigends, du schweigst über den Inhalt der Einweihung."
Ich nickte. Das war mir klar gewesen. Es hatte mir ja auch niemand meine Fragen zur Einweihung beantworten wollen.
"Solltest du jemals meinen, daß es Zeit ist, eine Einweihung zu erhalten, so brauchst du nur drei mal diese Einweihung zu fordern. Ich bin sicher, du würdest jede Einweihung bestehen. Grundsätzlich ist aber von solchen Forderungen abzuraten. Außer der ersten Einweihung, in der die Schüler lernen, was es heißt, eine Einweihung zu machen, ist jede Einweihung so angelegt, daß die Schüler sie entweder bestehen oder nachher tot sind. Und die Prüfer können es dir schwer oder leicht machen. Wenn du ihnen eine Einweihung abforderst, die sie dir nicht geben wollen, machen sie es dir lebensgefährlich schwer."
Ich nickte.
"Ich werde dich vermissen, Arid." sagte ich.

 

 

Unterschiedliche Sichtweisen

Am übernächsten Morgen verließ ich zusammen mit meinem Vater die Burg, die für Jahre meine Heimat gewesen war. Er hatte wieder einen Esel des Dorfes dabei und wollte mich reiten lassen. Ich lehnte ab, weil das nicht den Regeln entsprochen hätte. Ein gesunder Jesus sollte zu Fuß gehen und andere reiten lassen. Also stieg er auf und ich führte das Tier. Lange beobachtete er mich schweigend, wie ich ging, wie ich mich bewegte, wie ich mich gab. Schließlich fragte er leise:
"Sag mal, bist du mir eigentlich immer noch böse, daß ich dich damals hierhergeschickt habe?"
"Nein. Wenn ich geahnt hätte, daß ich Arid hier kennenlerne, hätte ich selbst so entschieden."
"Du hast einen kleinen Freund hier gefunden?"
"Nein. Jesus Arid. Mein Lehrmeister. Er ist der einzige Erwachsene, dessen Urteilsvermögen ich traue."
"Du meinst diesen Feigling, der damals aus der Sklaverei geflohen ist?"
"Das war die erste Geschichte, die er mir über sich selbst erzählt hat."
"Ich glaube nicht, daß es Feigheit war. Er war eher der Ansicht, daß die Regel, daß wir Sklaverei akzeptieren sollen, nicht für die Situation gemacht war, in der er steckte. Jesus Arid setzt sich öfters über Regeln hinweg. Öfter als die meisten. Und meist schafft er sich damit Schwierigkeiten, hilft aber anderen.
"Außerdem ist er ein unmöglicher Mensch."
"Kennst du ihn?" fragte ich.
"Ja. Ich bin hier aufgewachsen. Er ist der ekelhafteste Mensch, den ich kenne. Er hackt doch auf allen herum!"
"Das sehe ich anders. Bisher war alles, was er mir ins Gesicht gesagt hat, wahr - und es hat mir weitergeholfen im Leben, auch wenn es unbequem war."
"Du magst diese Ekel wirklich?" fragt mein Vater erstaunt.
"Ja."
"Das kann ich nicht verstehen."
Ich lächelte:
"Wie unterschiedlich man doch einen Menschen sehen kann."
Mein Vater verlor bald die Lust am Reiten. Also gingen wir beide nebenher und das Tier trug nur das Gepäck meines Vaters. Meine wenigen Habseligkeiten trug ich selber.
"Ich frage mich immer noch, wie ich dazu komme, einen Sohn zu haben, der so großartig lernt, daß das halbe Land über ihn redet und mit vierzehn die Einweihung macht und sie auch noch besteht!"
"Redet das halbe Land über mich?" fragte ich erstaunt.
"Ja."
"Haben die denn nichts besseres zu tun?" fragte ich desinteressiert und stellte dann fest: "Das hast du übrigens den Engeln zu verdanken."
"Aber ich dachte, du traust denen nicht."
"Eben. Mit dem Schwert sind sie nicht zu besiegen. Ich dachte, Wissen gibt mir vielleicht die Macht, mit ihnen fertig zu werden."
"Die Engel wissen doch viel mehr als wir."
"Das stimmt nicht. Sie wissen nur andere Dinge als wir. Über manche Bereiche unseres Alltags wissen sie weniger als ein Kleinkind. Außerdem sind sie keine Eingeweihten."
"Wirst du immer noch so viel von Engeln besucht?"
"Ja."
"Haben dich die anderen deshalb bevorzugt?"
"Ich habe ihnen nicht davon erzählt. Außer Arid. Aber der bevorzugt sowieso niemanden. Nein. Ich habe einfach nur hart gearbeitet."
"Und was wirst du jetzt tun?"
"Ich werde nach Hause zurückkehren und der Johannes wird meine weitere Ausbildung übernehmen. Arid hat ihn darum gebeten."
"Und der Johannes tut, was ihm Arid sagt?"
"Ja. Johannes war Arids Schüler."
"Wie kommt dieses Ekel zu so berühmten Schülern?" fragte mein Vater.
"Arid hat mir dafür eine sehr gute Erklärung gegeben." und ich gab meinem Vater die Worte wieder, mit denen Arid mir erklärt hatte, warum seine Schüler nahezu alle die Einweihung machten, während die Schüler der anderen Lehrmeister sich meist für ein anderes Leben entschieden. Als mein Vater hörte, daß Arid sich selbst als keinen angenehmen Menschen bezeichnete, mußte er lachen und meinte:
"Zu Selbsterkenntnis ist er wenigstens fähig."
Ich lachte ebenfalls:
"Allerdings. Das verlangt er ja auch ständig von seinen Schülern."
"Du, kanntest du eigentlich den alten Johannes, als er noch gesund war?" fragte ich meinen Vater.
"Ich habe ihn ein paar mal gesehen. aber ich habe mich nicht gewagt, ihn anzusprechen. Er war doch so ein heiliger Mann." antwortete mein Vater.
"Ich habe ihn jeden Abend besucht, wenn er zuhause war und er hat mir alles beigebracht, was er wußte. Er kann nämlich mit meinen Gedanken reden und ich kann das auch. Der Johannes war ein ganz lieber Mensch. Ich finde es so schade, daß die anderen Menschen das nicht gemerkt haben und über ihn lachten." sagte ich.
"Aber am Ende war doch nichts mehr mit ihm anzufangen. Er war einfach nur ein schwachsinniger Krüppel."
"Nein. Der Johannes war nicht schwachsinnig. Es hat ihm nur keiner außer mir und Arid zugehört. Er ist der klügste Lehrer, den ich hatte. Aber als sein Sohn endlich alt genug war, um das Amt des Johannes zu übernehmen, da wollte er einfach nicht mehr leben. Er hat Zeit seines Lebens zu viele Schmerzen gehabt."
Am Abend kamen wir am Essenerhaus in Jerusalem an. Wir baten wie üblich um Einlaß und mein Vater hörte auch auf meine Bitte, daß er in meiner Gesellschaft nicht mit meinem Können angeben sollte und auch nicht sagen sollte welcher Simon ich war. Ich mag es nicht, wenn die Leute zu mir aufschauen.

 

 

Ein grundanständiger Engel

Nach dem Abendessen sah ich mich um. Ich suchte den Engel und erkannte ihn an seiner etwas anderen Gesichtsform. Fremden fällt der Unterschied nicht auf. Die Engel sehen alle sehr einheitlich aus, so daß es leicht ist, zu erraten, wer der Engel im Haus ist. Ein hochgewachsener blonder Mann oder eine normal große blonde Frau mit einem ganz bestimmten typischen Gesichtsschnitt.

"Du bist hier der diensttuende Engel?" fragte ich.
"Ja." bestätigte er.
"Können wir uns ein wenig unterhalten?"
"Bei mir oben können wir in Ruhe reden." sagte er.
Ich folgte ihm wortlos in den mit großen Mengen der Engeltechnik ausgestatteten Funkraum. Bei meinem Eintritt fing ein Gerät an zu piepsen.
"Du trägst einen Sender." sagte der Engel.
"Ich weiß." antwortete ich.
Der Engel drückte ein paar Knöpfe, ein Bildschirm füllte sich mit einer mir unbekannten Schrift. Er las es durch.
"Weißt du, daß du als Gefolgsmann des Königs-Jesus vorgesehen bist?"
"Ja. Kannst du mir diese Schrift beibringen?" fragte ich.
"Nein. Neugierig bist du gar nicht, wie?"
"Nein - ich hab nur einen großen Wissensdurst. Ist es nicht merkwürdig, daß ich Schrift und Sprache unserer mächtigsten Feinde - der Schlangen in der Hölle - kenne, aber die unserer Verbündeten, der Engel, nicht?"
"Hier wird übrigends vor dir gewarnt. Du würdest alle Engel aushorchen."
Ich lachte:
"Das ist doch gar nicht wahr! Ich frage ihnen nur Löcher in den Bauch."
"Was dasselbe in Grün ist."
"Sag mal, ist es bei eurem Volk eigentlich üblich, daß erwachsene Männer zehnjährigen Jungen sexuelle Angebote machen?" fragte ich.
"Nein. Wie kommst du denn auf den abartigen Gedanken?"
Interessant. Er war ehrlich entsetzt. Ich hatte einen grundanständigen Engel gefunden. Allerdings war er zu naiv, um sich vorstellen zu können, daß andere Angehörige seines Volkes so häßliche Dinge taten, wie ich es erlebt hatte.
"Der Diensttuende Engel auf Karmel hat mich, als ich zehn war, zu sich gerufen und mir einen solchen Antrag gemacht. Ich habe abgelehnt. Meines Wissens stellt er an Kinder dieses Alters mit schöner Regelmäßigkeit diese Anträge und sie werden ebenso regelmäßig abgelehnt. Damit macht er euer Volk vor uns lächerlich. Anstelle eures Herrn würde ich den Mann von seinem Posten abberufen, auch wenn niemand das von ihm fordert. Unser Orden hat nichts dagegen, wenn ihr euch lächerlich macht." erklärte ich ruhig.

 

 

Prüfung im Tempel Jerusalems

Die Überprüfung im Haupttempel Jerusalems war so einfach und uninteressant, wie Arid mir gesagt hatte. Ich wurde getrennt von den anderen angehenden Schriftgelehrten geprüft, die in meinen Augen so lächerliche Fehler machten, daß ich beinahe in Versuchung gekommen wäre, ihnen vorzusagen. Die Prüfer wollten mich mit allen Regeln der Kunst dazu verleiten, einen Fehler zu machen. Dennoch war die symbolische Bedeutung der Fliesenmuster für mich interessanter als ihre Fragen.

Wegen der Langeweile war ich kurz davor, eine Diskussion mit ihnen über die Deutung historischer Schriften anzufangen. Sie mit ihrer geringen Bildung hätten dem nichts entgegenzusetzen gehabt. Ich zwang mich jedoch, einfach nur die Inhalte der überprüften Schriften nahezu wörtlich wiederzugeben, statt ihnen Vorträge über den historischen und gesellschaftlichen Hintergrund zu halten, in dem diese Texte entstanden waren. So ging die Prüfung am Schnellsten zuende.

 

 

Heimkehr

Johannes ist der Titel des höchsten Priesters des Essenerordens. Im Gegensatz zu der Königslinie, die durch den Tod des letzten Königs im Krieg ausgestorben war, und für die bis zu Jesu Geburt kein Ersatz gefunden wurde, wurde die Priesterlinie nach der Eroberung Israels durch die Römer ohne Unterlaß fortgesetzt.

Johannes der Täufer war gerade erst 20, als er in sein ererbtes Amt eingesetzt wurde und sein Vater starb. In dem Jahr, in dem ich meine erste Einweihung erhielt, war er 23.

Als ich nach der Prüfung im Tempel wieder ins Essenerhaus zurückkehrte, sagte die Wache am Eingang:
"Du bist doch Jesus Simon?"
"Ja."
"Schnell, geh hinunter in den Konferenzraum, der Johannes wartet schon auf dich."
Ich lief hinunter. Vor der Tür des kleinen Raumes hielt ich inne. Ob er wieder nur schweigen würde? Ich klopfte.

Leise Schritte näherten sich von innen. Ein junger Mann mit einem sanften, fröhlichen Gesicht öffnete, sah mir kurz prüfend in die Augen, lächelte und fragte leise:
"Simon?"
"Ja."
Mit einer freudig-einladenden Geste, forderte er mich auf, einzutreten. Wir waren alleine.

Wir setzten uns beide auf den Boden und musterten und gegenseitig mit intensiver, freundlicher Aufmerksamkeit. Johannes schwieg. Ich schwieg auch, erspürte aufmerksam sein Energiefeld und entspannte mich dabei immer mehr. Ich konnte spüren, daß es ihm genauso erging. Ich kuschelte mich an ihn, schloß die Augen und fühlte mich einfach wohl und geborgen.

Wir waren fast eine Stunde so allein, als schließlich jemand zaghaft an die Tür klopfte und fragte, ob Johannes nicht hoch zum Abendessen kommen wolle. Johannes lächelte voll echter Freude und sagte, daß er selbstverständlich sofort komme. Dann forderte er mich wortlos, mit einem strahlenden Lächeln auf, ihm zu folgen.

Auf dem Weg zum Essen freute er sich über jeden Menschen, dem er begegnete. Meist schenkte er ihnen nur ein strahlendes Lächeln. Mit manchen wechselte er einige Worte. Manchmal über Alltägliches, andere befragte er über den Fortgang von Arbeiten, die er offensichtlich schon früher mit ihnen besprochen hatte. Mir erklärte er dann mit wenigen Worten, worum es ging.

Ich fand die Wirkung, die Johannes auf andere hatte interessant: Seine Angewohnheit, sich über alles und jeden zu freuen, der ihm begegnete, brachte ihm viel Liebe ein. Jeder, der ihm begegnete, schien ihn zu mögen. Die Leute versuchten ihm aber Ehrungen aufzudrängen, wie sie für Menschen mit hohem gesellschaftlichem Rang üblich sind, doch Johannes lehnte das ab, weil ihm das sichtlich unangenehm war. Ich verhielt mich, als sei ich Johannes Diener. Dadurch warfen die Menschen mir nur einen uninteressierten Blick zu, ordneten mich als unwichtig ein und vergaßen mich sofort. Ich konnte Johannes so viel ungestörter beobachten. Interessanterweise nahm er das von mir ohne Widerspruch an.

Ich beobachtete Johannes Verhalten, dachte über seine Entscheidungen nach und erledigte nebenher ein paar kleine Handgriffe. Erst als wir abends allein waren, stellte ich eine Frage:
"Johannes, warum hast du dir Arid als Lehrer ausgesucht?" fragte ich. "Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Mein Vater hat sich Sorgen gemacht, daß ich vielleicht verwöhnt werden könnte und mir den unangenehmsten Lehrer ausgesucht, den er finden konnte." erklärte der Johannes in seinen Augen blitzte ein Lachen auf, das zeigte, daß er selbst Arid beileibe nicht als unangenehmen Menschen einstufte.
"Jesus Arid hält aber viel von dir. Er hat dich nicht gebeten, mein Lehrer zu werden, weil du der Johannes bist, sondern weil er dich für einen guten Lehrer hält." entgegnete ich.
"Ich weiß. Ich halte auch viel von ihm. Aber er verwöhnt ganz gewiß keine kleinen Kinder." Johannes lachte.
"Nein. Arid ist ein Mensch, der kommt her, bittet ganz lieb um etwas, das einfach nur eine Zumutung ist, und man tut, worum er bittet, weil er recht hat." sagte ich.
Johannes nickte. Er kannte das.
"Warum hältst du viel von Arid?"
"Er hat mich gelehrt, auch die unangenehmen Menschen zu lieben."
"Wie Arid?"
"Nein. Arid ist hart und bitter, weil sein Leben hart und bitter war. Aber im Grunde seiner Seele ist er voller Liebe und Güte. Die wirklich unangenehmen Menschen haben vielleicht eine weiche Schale, aber ihr Herz ist verdorben."
Ich nickte. Ich dachte an Ramajan, der mich immer wieder folterte und dann zu allem Überfluß auch noch Mitleid mit mir hatte. Das ist wahr. Dann ergänzte ich:
"Es ist noch mehr. Wenn Arid etwas sagt, dann ist es zuerst hart, doch auf Dauer macht es reich. Die anderen Lehrer sind nett und gutmütig. Aber wenn sie etwas sagen, dann ist es zuerst nett, doch au Dauer hilft es nicht."
Johannes warf mir einen zutiefst nachdenklichen Blick zu. Dann lächelte er und nickte. Nach einer ganzen Weile des Schweigens sagte er:
"Wenn ich bei einer Sache nicht mehr weiter weiß, frage ich immer noch Arid, was er dazu meint."

Johannes teilte mir mit, daß ich auf Wunsch des alten Jesus Tios zu meinem Heimatdorf zurückkehren solle, um dort nach und nach die Pflichten des Heilerjesus des Dorfes zu übernehmen. Er begleitete meinen Vater und mich auf dem Weg dorthin.

Die meiste Zeit habe ich mich nur mit Johannes unterhalten. Es war einfach so, daß ich bei meinem Vater nicht wußte, worüber ich mit ihm reden sollte. Was mir wichtig erschien, wußte er nicht einmal und all die alltäglichen Sorgen und Nöte der Dörfler, die sein Leben ausmachten, waren nicht Teil meines bisherigen Lebens. Am allerwenigsten zu unwesentliche Dinge, wie wo man schönen Schmuck für eine Freundin herbekommt. Mein älterer Bruder wollte heiraten.

 

 

Der Intelligenztest

Als wir auf halber Strecke zu Mittag aßen, wurde ich durch den Sender angefunkt, ich solle auf das Schiff kommen, das hinter einem Hügel auf mich wartete. Ich informierte Johannes darüber und stand auf.
"Ich komme mit." sagte Johannes und folgte mir.
Diesmal war außer Ramajan noch ein zweiter Mann auf dem Schiff. Ich grüßte und fragte, was sie diesmal von mir wollten.
"Heute machen wir einen Intelligenztest."
"Was ist das?" fragte ich.
"Du setzt dich hier an den Computer und führst einige Testaufgaben durch. Daran überprüfen wir, wie klug du bist."
"Ich halte es für schwierig, etwas so umfassendes wie Intelligenz mit einem kleinen Test überprüfen zu wollen. Wenn der Test ungünstig zusammengestellt ist, kommt da vollkommener Blödsinn bei heraus." entgegnete ich.
"Ich werde dir die Testauswertung zukommen lassen. Dann kannst du anhand der Auswertung die Sinnhaftigkeit des Tests überprüfen."
"Es gibt eine Schwierigkeit. Wenn ich mit eurem Computer arbeiten soll, muß ich zuvor eure Schrift und Sprache lernen." sagte ich hoffnungsvoll.
"Wir haben dir den Text in eure Schrift übersetzt."
Ich war enttäuscht. Dabei war es ein so gutes Argument gewesen. Als ich immer noch zögerte, sagte der Engel:
"Wir können dich auch zwingen, den Test mitzumachen."
"Nein. Wenn ich nicht bereit bin mitzuarbeiten, bekommt ihr nur schwachsinnige Ergebnisse." entgegnete ich.

Aus Neugier über den Test habe ich am Ende doch mitgemacht.

 

 

Der Plan hat einen Fehler: Er funktioniert nicht

Nach dem Test, auf dem weiteren Weg nach Hause, fragte ich Johannes, was er von den Plänen der Führung hielte, daß sie einen Krieg gegen die Römer führen wollten, um sie aus dem Land zu jagen.
"Der Plan hat einen Fehler. Er funktioniert nicht." antwortete Johannes.

Ich starrte Johannes fassungslos erstaunt an. So eine krasse Kritik an diesem grundlegenden Plan der Führung hatte in meiner Gegenwart noch niemand geäußert. Selbst ich hatte es nie ausgesprochen, obwohl mir die Pläne unsinnig erschienen, gerade weil die Engel so darauf drängten. Ich konnte nicht den Finger auf die Stelle legen, wo es nicht stimmte, es ergab nur in meinen Augen alles keinen Sinn. Arid, der Vater des jungen Johannes und Johannes deren politische Ansichten mich interessiert hätten, hatten mit mir nie über die aktuelle Politik geredet. - Das heißt, sie hörten sich meine Meinung an, und ließen mich Bücher über Geschichte lesen, aber ihre Meinungen teilten sie mir nicht mit.

Zu Erklärung nannte mir der Johannes die Zahl der in Israel ständig ansässigen römischen Legionen. Das waren mehr als die waffenfähige Bevölkerung Israels. Die Essenerkrieger waren nur ein zehntel so viele. Dann nannte er die geschätzte Zahl der Zeloten - der anderen Freiheitskämpfer.
"Die Römer sind gut ausgebildete Kämpfer, aber schlechter als Essener. Die Zeloten sind sehr schlecht bis gar nicht ausgebildet. Alles in allem reicht auch unser Können nicht, um einen zehn-zu-eins-Nachteil auszugleichen. Wenn wir einen Krieg beginnen, werden die Römer siegen. Und dann vernichten sie uns endgültig." erklärte er.
Damit hatte er mein gefühlsmäßiges Urteil mit Zahlen belegt.
"Warum wollen die Engel dann, daß wir kämpfen?" fragte ich.
"Ich weiß nicht. Aber sie haben sicher keine guten Gründe. Sie verachten uns genug, um uns für ihre Pläne wie Vieh abschlachten zu lassen." dachte Johannes mir zu.
Ich nickte. Auch damit bestätigete er meinen eigenen Eindruck.

Zuhause angekommen, wurde uns mitgeteilt, daß Jesus Tios während der Abwesenheit meines Vaters gestorben sei. Ich wußte das schon, denn Tios Geist hatte mich nach seinem Tod besucht und mich gebeten, mich gut um seine Leute zu kümmern.

Der Krieger-Jesus war empört, als Johannes darauf bestand, daß ich und die zwölfjährige Maria, die bei Tios gelernt hatte, ab jetzt die für das Dorf zuständigen Heiler seien.
"Zwei Kinder!" schimpfte er.
"Simon hat alles gelernt, was Karmel ihm lehren konnte. Und er ist weder in seinem Denken noch in seinem Verhalten ein Kind. Maria hat dafür eine erhebliche praktische Erfahrung im Umgang mit Kranken. Außerdem sind beide in meiner Ausbildung. Ihr seid besser versorgt, als die meisten anderen Dörfer." entgegnete Johannes.

Das Dorf mußte sich damit abfinden, daß wir zwei Kinder, die wir in ihren Augen noch waren, uns um die Kranken kümmerten.

 

 

Der gelähmte Mann

Direkt nach dem Abschluß der Besprechung teilte mir Maria mit, daß wir uns noch um einen gelähmten Patienten kümmern müßten, der so krank sei, daß Jesus Tios ihm nicht hatte helfen können.

Die Essener sind das Heer zur Befreiung Israels von den Römern. Wie jedes Heer haben sie eine Musterung. Als Vollmitglieder nimmt der Essenerorden nur gesunde Männer auf. Doch da jeder Essenerkrieger auch Familie hat und diese Familie mit ins Dorf bringen darf, haben wir immer wieder Kranke oder Schwerstkranke in den Dörfern.

Maria erzählte mir, daß der Mann der Vater eines Esseners sei, der mit seiner Familie erst vor zwei Jahren dem Orden beigetreten sei. Seine angeschlagene Gesundheit sei auf die vorher ungesunde Lebensweise des Mannes zurückzuführen.
"Kannst du nicht Johannes bitten, daß er sich darum kümmert?" fragte sie am Ende ihrer Ausführungen.
"Maria, das Dümmste, was wir im Augenblick tun könnten, ist alle schwierigen Fälle an Johannes weiterzugeben. Da Tios dein Lehrer war, wirst du ihm vermutlich nicht besser helfen können als er. Ich aber habe von anderen Lehrern gelernt. Es wird ihm nicht schaden, wenn ich auch einmal versuche, ihm zu helfen. Wenn ich keinen Erfolg habe, können wir Johannes immer noch fragen, und er hilft ihm bestimmt, und sei es nur, damit wir beide lernen, wie man solche Dinge heilt." erklärte ich.
Dann betraten wir das Haus begrüßten den alten Mann. "Maria, warum bringst du diesen jungen Spund mit und wann kommt der neue Heiler?"
"Ich bin Jesus Simon, der neue Heiler." stellte ich mich vor.
"Oh, schade, dann kannst du mir auch nicht helfen." sagte der Mann.
Ich lachte:
"Oh, ein Patient, der sich von vorneherein selbst aufgibt! Wie wärs, wenn du damit bis nach der Behandlung warten würdest, falls dann noch ein Anlaß dazu bestehen sollte?"
"Was soll so ein Kind schon können?"
"Ich weiß, was ich kann. Du weißt es nicht. Wenn ich heute keinen sichtbaren Erfolg haben sollte, wie du es dir vorstellst, dann gebe ich mich geschlagen und überlasse die Behandlung dem Johannes. Aber ich glaube nicht, daß es so weit kommt." entgegnete ich.
"Der Johannes? Dann bleibt ja noch Hoffnung." meinte der Mann und ließ zu, daß ich meine Arbeit begann.

Zuerst kontrollierte ich die Stellung der Wirbel und korrigierte sie, so weit nötig. Dann entspannte ich mich und begann die Arbeit an den Energiefeldern. Sie waren sehr verschmutzt, so daß ich lange zu tun hatte. Als ich fertig war, begann die Sonne schon aufzugehen. Ich legte mich erschöpft schlafen.

Als ich am Abend erwachte, lag ein Brief von Johannes neben meinem Bett, in dem er schrieb, daß Maria und ich zuerst einmal ein paar Wochen voneinander lernen sollten. Dann würde er wieder vorbeikommen und nachschauen, welche Probleme aufgetaucht seien. Ich war enttäuscht. Ich wäre gerne öfter mit Johannes zusammengewesen. Aber als Johannes hatte er selbstverständlich noch viel mehr zu tun, als mit einem jungen Heiler freundschaftliche Gespräche zu führen.

Wenige Minuten später wurde mir mitgeteilt, daß der alte Mann zum ersten mal seit zwei Jahren wieder aufgestanden sei. Sofort lief ich hin, um den Erfolg meiner Arbeit zu sehen. Meine Lehrer hatten mir gesagt, daß ich mit meinem Können in der Lage sei, auch schwere Lähmungen zu heilen. Doch ich selbst war davon gar nicht so überzeugt gewesen.

Schon auf den ersten Blick sah ich, daß die Lähmungen noch nicht ganz abgeklungen waren. Aber die Besserungen waren so deutlich, daß ein echter Anlaß zur Freude bestand. Ich strahlte ihn an und fragte:
"Na, darf ich dich jetzt weiterbehandeln?"
"Immer. Jetzt weiß ich, daß du zwar ein junger Spund bist - aber einer, der sein Handwerk versteht. Sag mal, war ich dein erster Patient?"
"Der erste richtig Kranke. Ich habe vorher immer nur an fast gesunden Menschen gearbeitet. An meinen Mitschülern." erklärte ich. "Das war ein ganz schöner Sprung ins kalte Wasser, wie?"
"Ja."
Innerhalb eines Monats wurde er ganz gesund.

Ich hatte es ja fast erwartet. Trotzdem konnte ich kaum fassen, daß nach ein paar Tagen des Überlegens alle außer diesem alten Mann der Überzeugung waren, daß die wiederkehrende Gesundheit meines Patienten ein verspäteter Heilerfolg der Arbeit des alten Jesus Tios sei.

 

 

Anfängerfehler

Wenige Tage später kam der Anführer einer Gruppe Zeloten, Freiheitskämpfer für das jüdische Volk, mit einem Begleiter zu unserem Dorf und fragte nach Jesus Tios. Er wurde an mich verwiesen und war sichtlich enttäuscht, daß ich so jung war.
"Hast du jemals alleine einen Verletzten versorgt?" fragte er.
"Nicht, wenn die Verletzungen ernst waren. Ich komme direkt von Karmel." antwortete ich ehrlicherweise.
"Und einen erfahreneren Heiler habt ihr nicht? Wir haben sehr schwere Verletzungen."
"Nein. Ihr müßt euch wohl mit Maria und mir zufrieden geben.
"Maria geht ja noch. Die hat ja schon oft selbständig gearbeitet. Aber dieser grüne Junge... Na, kommt mit."
Sie nahmen uns mit auf ihre Pferde und ritten in ein weit entferntes Dorf, wo einige Männer noch damit beschäftigt waren, tote Männer, Frauen und Kinder in Reihen auf den Marktplatz zu legen.

Wegen der leichten Verletzungen wurden wir gar nicht erst gefragt. Die Zeloten wußten, daß so viel Arbeit für uns nicht zu bewältigen gewesen wäre. Sie brachten uns gleich zu den vier Schwerstverletzten, die ohne uns gestorben oder fürs Leben schwer verkrüppelt gewesen wären.
Maria deutete auf einen Mann, dessen eines Bein am Knie fast abgetrennt war, so daß nicht essenische Ärzte das Bein sofort ganz abgenommen hätten, da klar war, daß es durch die wenigen noch heilen Adern nicht ausreichend mit Blut versorgt werden konnte.
"Darum kümmerst du dich zuerst." sagte sie zu mir.
Die anderen Wunden waren ebenfalls tief, doch war kein weiteres Körperteil von der Blutversorgung abgetrennt.

Also begann ich mit dem Bein. Ich nahm Nadel und Faden aus meiner Heilertasche und fügte mit möglichst wenigen Stichen alle Knochen, Sehnen, Bänder und Muskeln so genau wie möglich wieder zusammen. Das war nötig, damit möglichst wenig Narben zurückblieben.

Dann ging ich in einen leicht entspannten Zustand, in dem ich die Aura sehen konnte, deren Bestandteile man auch als feinstoffliche Körper bezeichnet. Ich begann mit dem gröbsten Körper und flickte auch darin alles, was zerrissen war, wieder zusammen und ich reinigte ihn von Giften. Dann ging ich in den nächsthöheren Körper und arbeitete daran weiter. Nach und nach arbeitete ich mich so bis zu den feinsten Energien hoch, die ich noch wahrnehmen konnte. Als ich fertig war, begann ich schließlich um Kraft zu beten. Ich spürte, wie mir eine feiner Strom reiner Energie zufloß und lenkte ihn in die Aura des Beins. Ich betete weiter, bis das Bein nichts mehr annahm. Dann senkte ich meine Wahrnehmung wieder auf das Alltagsbewußtsein ab und schaute nach.

Die Wunde war vollständig verheilt, nur eine häßliche knotige Narbe war zurückgeblieben, die aber die Brauchbarkeit des Beins nicht beeinträchtigen würde. Ich war nicht zufrieden mit meiner Arbeit.

Dann nähte ich alle anderen Wunden auf einmal und heilte auch den Rest der verletzten Aura.

Als ich nach der Arbeit wieder zu mir kam, war ich noch weniger zufrieden mit meinen Erfolgen. Es hatten sich zwar alle Wunden geschlossen, aber die Narben waren häßlich. Der Mann würde vermutlich für den Rest seines Lebens mit Narbenschmerzen zu kämpfen haben.

Ich mußte einsehen, daß meine Erfahrung, die ich an kleineren Kratzern meiner Spielkameraden gesammelt hatte, einfach noch nicht ausreichte, um es besser zu machen. Und ich war nun mal der beste Heiler in erreichbarer Nähe. Jetzt wußte ich, warum in Karmel bei ernsthaften Verletzungen immer der beste verfügbare Heiler mit solchen Aufgaben betraut wurde. Während alle Kinder, die diese Form des Heilens lernen wollten, dazu angehalten wurden, jeden unbedeutenden Kratzer, den sie bei sich selbst oder ihren Spielkameraden fanden, auch tatsächlich richtig zu heilen. Man kann einfach nicht so viel Übung bekommen, wie man eigentlich bräuchte.

Dann löste ich mich innerlich von der getanen Arbeit und alles begann, sich um mich zu drehen. Mir wurde schlecht. Ich biß die Zähne zusammen und zwang meinen Magen wieder an den Platz, wo er hingehörte. Ich ärgerte mich über mich selbst. Genau davor hatten mich meine Lehrer immer gewarnt. Ich hatte mich so sehr verausgabt, daß jeder Versuch, noch etwas zu heilen, für mich lebensgefährlich wäre. Dabei hatte ich bisher nur einen der vier Verletzten geheilt.

Ich schaute mich um. Maria war klüger vorgegangen. Sie hatte zuerst einmal die Wunden aller Verletzten genäht. Nun kam sie zu mir und sagte:
"Ich kann bei dem Mann dort drüben eine Blutung nicht stillen. Du mußt dich darum kümmern. Du kannst Wunden schließen."
"Nein. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe mich verausgabt. Du mußt das machen." sagte ich.
"Aber Tios konnte das doch nicht. - Ich habe es nie gelernt."
"Dann führe ich dich durch die Arbeit - die Aura kannst du doch sehen, oder?"
"Ja."
"Gut. Laß uns anfangen."

Wir gingen zu dem Mann hinüber und ich sah sofort, daß sie viel sauberer genäht hatte, als es mir gelungen war. In Zukunft würde ich bei schweren Wunden das Nähen ihr überlassen und selbst an kleineren Sachen üben.

Wir setzten uns gegenüber und ich sagte:
"Richte deine Aufmerksamkeit auf die unterste Ebene der Aura."
"Was ist die unterste Ebene?"
"Wenn du keine verschiedenen Ebenen zu trennen gelernt hast, schau dir einfach die Aura an. Das ist dann die unterste Ebene. Bist du soweit?"
"Ja."
"Gut. Was siehst du?"
Schritt für Schritt sagte ich ihr, was sie tun mußte und als sie mit der untersten Auraebene fertig war, hob ich mit meiner Energie ihre Aufmerksamkeit auf die nächsthöhere Ebene und wir arbeiteten dort weiter.

Die letzten beiden Auraebenen bearbeitete ich dennoch selbst, da ich Marias Aufmerksamkeit nicht so hoch anheben konnte. Doch diese eine Blutung war zumindest gestillt und ich fühlte mich nachher nicht schlechter als vorher. Das heißt, mir war kotzübel.

"Maria, hast du inzwischen alle Arbeit getan, die du heute noch schaffen wolltest?" fragte ich.
"Nein. Ich will noch drei Verbände anlegen. Dann bin ich fertig."
"Gut. Ich warte auf dich. Ich kann jetzt nichts mehr machen."
Sie sah mich mißbilligend an und beugte sich dann wieder über ihre Arbeit. Als sie fertig war, fragte ich sie, ob man die Männer jetzt zwei Tage allein lassen könne, ohne sie in Gefahr zu bringen.
"Also ich wollte morgen noch einmal hingehen und nach ihnen schauen." meinte sie spitz.
"Gut mach das. Wir müssen uns morgen auch noch einmal zusammensetzen und alles durchsprechen. Ich habe heute einige Fehler gemacht, die ich nie wieder machen will." sagte ich.
Da wurde ihr Blick sanfter. Sie nickte.

Die Zeloten brachten uns nach Hause und bedankten sich mehrfach bei mir.

Am nächsten Tag, als ich mittags aufwachte, wurde mir schon davon schwindelig, daß ich mich aufsetzte. Ich bat Maria, mir etwas zu essen ans Bett zu bringen, dann aßen wir gemeinsam. Nicht, daß ich Appetit gehabt hätte. Im Gegenteil: das Essen ekelte mich an. Aber es stärkt die Verbindung zum Körper, die ich durch meine übertriebene Energiearbeit zu sehr geschwächt hatte. Also zwang ich es herunter und zwang mich, es auch unten zu behalten. Als ich meinte, absolut nichts mehr schlucken zu können, sagte ich zu Maria:
"Die Zeloten waren von meiner Arbeit sehr beeindruckt, während sie das, was du getan hast, als nicht so wichtig eingeordnet haben. Doch ich für mich mußte mir sagen: Wenn ich mich alleine um die Männer hätte kümmern sollen, wären drei der vier Männer gestorben. Bei dir hätten es vermutlich alle überlebt, nur einer hätte ein Bein verloren. Deine Arbeit war eindeutig besser.
"Ach, merkst du es auch schon? Einfache Leute lassen sich immer gerne von im Grunde nutzlosen Zauberkunststücken beeindrucken." sagte sie spitz.
Ich warf ihr einen verärgerten Blick zu und fuhr fort:
"Wenn du erwartest, daß sie die wirklich wichtigen Sachen wichtig nehmen, dann erwartest du zu viel. Wie gut, daß wir zusammen dort waren. So werden nämlich trotz meiner Fehler alle einigermaßen gesund. Noch etwas. Ich möchte dich bitten, daß in den nächsten Monaten du die schweren Wunden nähst und ich nur leichtere Sachen. Und ich will, daß du dir ansiehst, was ich nähe und mir erklärst, was ich besser machen kann. Ich kann da noch viel von dir lernen. Deine Fähigkeiten im Heilen von Energiefeldern wendest du dagegen zuerst nur an, um die kleinen Kratzer kleiner Kinder zu heilen oder in Fällen, wo du die Wahl hast, Felder zu heilen, oder eine Wunde auszubrennen, damit dein Patient nicht verblutet. Da finde ich selbst meine Fähigkeiten erschreckend schlecht." sagte ich.
"Du bist einfach ein unerfahrenes Kind. Ich brauche dich nur anzusehen, um zu wissen, daß du gestern nur zwei Sachen hättest heilen dürfen. Das Bein, das der Mann sonst verloren hätte und die Wunde, wo ich dich darum gebeten habe." putzte sie mich herunter.
Ich nickte: "Jetzt weiß ich das auch."
"Na, wenigstens siehst du deine Fehler ein." meinte sie herablassend.
Ich nickte. Ich fand ihre Herablassung nicht angemessen, hielt es aber für besser, dazu zu schweigen. Selbstverständlich bin ich bereit, aus meinen Fehlern zu lernen.

Aber ich war mir ziemlich sicher, daß kein Schüler Karmels es beim ersten mal besser gemacht hätte. Die Anderen haben am Anfang nur einen älteren Heiler vor der Nase, der auch entsprechend selbstbewußt auftritt, weil er weiß, welche Fehler unerfahrene Heiler machen, die gerade von der Schule gekommen sind und wenn sie tausendmal die besten Schüler Karmels waren. Maria hatte mich einfach überschätzt und den Wert ihrer eigenen großen praktischen Erfahrung in selbstständiger Arbeit unterschätzt. Ich wußte ja nicht einmal, wieviel Heilarbeit ich auf einmal bewältigen konnte, geschweige denn, wie ich meine Kräfte einteilen mußte.

Nun ja. Aus Erfahrung wird man klug.

 

 

Ein Testergebnis

Als Maria unterwegs war, um sich um die Verletzten zu kümmern, wurde ich wieder von den Engeln angefunkt. Ich bat sie, schlafen zu dürfen, weil ich mich wegen der übertrieben langen Heilarbeit vom Vortag sehr elend fühlte.

"Wenn du nicht freiwillig kommst, holen wir dich." drohte die Stimme.
Es war nicht Ramajan. Ich war mir zu gut, um um Gnade zu flehen. Mühsam stand ich auf, verlor sofort das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ich schluckte das Essen wieder herunter, das im Begriff war hochzukommen und versuchte den Schwindel unter Kontrolle zu bekommen. Dann krabbelte ich zur Wand und richtete mich in einer Ecke des Zimmers vorsichtig auf. Minutenlang stand ich zitternd da und versuchte die bunten Schlieren und Kreise vor meinen Augen zu vertreiben. Schließlich, als mein Blick wieder klar war, tastete ich mich an der Wand entlang nach draußen. Zu meinem Erstaunen gelang es mir draußen sogar zu gehen. Ich muß aber getorkelt haben, wie ein Besoffener. Ich schaffte es bis zum Schiff.

Im Schiff fiel ich - wie unterwegs schon mehrfach - hin. Ich setzte mich mühsam auf und nahm meinen schmerzenden Kopf in die Arme. Außer Ramajan war noch eine hochgewachsene, schwarzhaarige Frau anwesend.
"Was wollt ihr von mir." fragte ich.
"Hör sofort auf mit dem Theater." sagte die Frau, die eigentlich gar nicht wie ein Engel aussah. Ich sah sie nur schweigend an. Den Gefallen konnte ich ihr nicht tun.
"Zieh dich aus und leg dich auf die Behandlungsliege."
Ich wurde aus der Situation nicht schlau. Woher kam plötzlich diese Schärfe, diese Wut, die sie mir entgegenbrachten statt der üblichen arroganten Verachtung?
"Was ist los? Was habt ihr mit mir vor?" fragte ich.
"Tu was ich dir sage!"
Ich sah sie an, zuckte mit den Schultern zog mein Gewand aus, legte es zusammen und krabbelte mühsam auf die Behandlungsliege. Sie schnallte mich mit einigen Riemen so fest, daß mir das Blut abgeschnürt wurde. Ich machte sie darauf aufmerksam.
"Das interessiert mich nicht. Halt still. Willst du wirklich keine Betäubung?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich würde sie nehmen. Ich habe heute nämlich etwas besonders Häßliches vor. Etwas das der arme, dumme, weichherzige Ramajan nie übers Herz bringen würde."
Sie war ja richtig boshaft. "Ramajan ist nicht dumm. Er hat nur kein Rückrat. Deshalb tut er alles, was ihm befohlen wird. Auch die Dinge, die er nie übers Herz bringen würde." widersprach ich.
Die Frau sah mich überrascht an.
"Heute wird es wirklich schrecklich. Und ich bin auch nicht so schwach wie er. Ich werde dir deine neugierigen Fragen nicht beantworten. Ich habe dich durchschaut. Du willst uns aushorchen. Wir haben nämlich einen Intelligenztest gemacht. Da steht das drin."
"Ich Idiot." dachte ich nur. Da hatte mir meine Neugier wirklich einen Streich gespielt.
"Du bist intelligent genug, um unsere Pläne zu durchschauen und willst erreichen, daß wir dir alles erzählen. Aber ich beantworte dir deine Fragen nicht." erzählte sie mir und hatte mir meine Fragen damit erst einmal alle beantwortet.
"Du bist wirklich nett." antwortete ich freundlich.
"Warum?" fragte sie verdutzt.
"Ich habe auch einen Intelligenztest mit dir gemacht. Du bist nicht intelligent genug, um meine Pläne zu durchschauen." erklärte ich boshaft.
Doch, mir fiel noch eine Frage ein: Ich wollte wissen, wie sie hieß.
"Nur damit du weißt, wer dich in Zukunft überwachen wird: Ich bin Tojinia."
Die Frau war ein Phänomen.
"Du bist wirklich sehr nett." lobte ich sie.
"Ich bin gar nicht nett! Bald werde ich die Gelegenheit haben, dich richtig zu foltern, nicht nur so ein paar lächerliche Operationen. Dazu waren nämlich die Nervenfunktionsprüfungen nötig." widersprach sie ärgerlich.
Foltern. Das erklärte einiges. An die Frage hatte ich nicht einmal gedacht. Ich lächelte herzlich:
"Das hast du sehr schön gesagt. Genau das wollte ich von dir hören."
"Das ist gar nicht wahr!"
"Meinst du?" fragte ich sanft.
"Nein das ist nicht wahr."
"Wie du meinst."

Sie merkte, daß sie Boden unter den Füßen verlor, begriff aber nicht, warum. Hastig bereitete sie alles für die geplante Operation vor und schnitt mir dann den Bauch auf. Mir wurde vor Schmerzen schwarz vor Augen. Sämtliche Muskeln im Unterkörper verkrampften sich, so daß sie nicht weiterarbeiten konnte.
"Gib ihm ein Muskelrelaxans."
Ramajan spritzte mir ein Zeug, das den Effekt hatte, daß sich meine Muskeln entspannten, ohne daß aber die Schmerzen gedämpft wurden. Ich konnte dadurch nicht mehr richtig atmen und schnappte verzweifelt nach Luft, um nicht zu ersticken. Dann arbeitete sie weiter. Anders als Ramajan, der einfach nur möglichst sauber und ordentlich die Operationen ausgeführt hatte, die ihm aufgetragen worden waren - und sie waren glücklicherweise nie im Bauchraum gewesen - nutzte Tojinia ihr medizinisches Wissen, um mich zu foltern. Sie spielte am Bauchfell herum, das ja reichlich mit Nerven versorgt ist, reizte jeden Nervenstrang, den sie entdecken konnte mit elektrischem Strom und lauschte auf Schreie, die gar nicht kommen konnten, weil das Muskelrelaxans auch die Stimmbänder gelähmt hatte. Ich war so mit den Schmerzen beschäftigt, daß ich nur ganz nebelhaft mitbekam, was sie machte. Sie pflanzte etwas Faustgroßes in meinen Bauch. Und dann klebte sie die Schnitte der Reihe nach mit einem chirurugischem Kleber wieder zusammen und setzte das Gerät ein, was die Engel benutzten, um Wunden auf technischem Wege wieder zu verschließen. Nachher blieb nur eine kaum sichtbare Narbe zurück. Sie befreite mich von den Gurten.

Sobald meine Muskeln mir wieder ausreichend gehorchten, setzte ich mich zitternd auf. Im Grunde war ich wütend auf diese Frau, die Spaß daran hatte, mich zu foltern. Ich sah zu ihr hoch und fragte lächelnd:
"Und wie fühlst du dich so, wenn du gerade deiner Lieblingsbeschäftigung nachgegangen bist?"
"Das war überhaupt nicht meine Lieblingsbeschäftigung! Ich habe eine absolut notwendige Operation ausgeführt!" widersprach sie empört und verunsichert.
Interessant wie leicht sie aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Immerhin war ja nicht sie bei vollem Bewußtsein operiert worden.
"Und wie für alle Engel war das auch für dich ein großes Vergnügen."
"Ich bin gar kein Engel. Ich bin eine Karigada. Wir sind berühmt für unseren Stolz und unseren Mut im Kampf."
Schön. Genau das hatte ich wissen wollen. "Du meinst für eure Unausgeglichenheit und euren Jähzorn? Oder vielleicht dafür, daß eure Technik veraltet ist?"
"Gar nicht wahr. Wir sind eine raumfahrende Macht. Wir bauen die besten Gehirnraumschiffe!"
"Ach so. Deshalb bist du hier und führst die Befehle eines Engels aus.!
Tojinia tat so, als stolpere sie und rammte mir mit voller Kraft eines ihrer chirurgischen Instrumente in den Arm.
"Ach das tut mir aber leid."
"Ja." kommentierte ich trocken, "Es ist wirklich bemitleidenswert, wie ungeschickt du bist."
Den Schmerz ließ ich mir nicht anmerken. Vermutlich war sie eine Gefangene. Sonst hätte sie nicht so reagiert.
"Aber in Wirklichkeit hat die Operation dir doch großen Spaß gemacht. Gib's zu!"
"Nein, ich mußte dir eine Pumpe einpflanzen, um dir Drogen in den Körper zu pumpen, die dich gefügig machen."
Das kann ja heiter werden. Die Engel überschätzen die Macht solcher chemischer Mittel. Man kann den eigenen Körper anregen, genug entgegengesetzt wirkende Stoffe zu produzieren. Aber sie sind eine Belastung für den Körper. Es ist sehr schwierig, dabei das innere Gleichgewicht zu wahren, weil das eigene Hormonsystem auf so erhebliche Zufuhr körperfremder Hormone nicht eingestellt ist und sie auch nicht richtig abbauen kann. Außerdem führt es zu erheblichen Schäden in der Aura.
"Weißt du, mit so ein bißchen Gift kannst du mich umbringen, aber du kannst mich nicht gefügig machen." erklärte ich sanft.
"Und ich werde dir noch öfter den Bauch aufschneiden müssen. Möchtest du dann nicht eine Betäubung?" spöttelte sie.
"Nein. Wie kommst du darauf?" fragte ich zurück.

Das waren ja Zukunftsaussichten!

Ich bekam von Tojinia sogar eine Übersetzung der Ergebnisse des Intelligenztests ausgehändigt. Schade war nur, daß das unübersetzte Original nicht dabei war. Sie war wirklich freigiebig mit Informationen. Ich überlegte, ob es möglich sein könne, ihr nach und nach das Alphabeth der Engel aus der Nase zu ziehen. Das wäre wirklich interessant.

Ich wunderte mich selber, daß ich es an dem Tag noch schaffte, zu Fuß nach Hause zu gehen. Die Heilerin Maria schlief bereits. Obwohl ich mich ganz ausgelaugt fühlte und mir schlecht war, fiel es mir schwer, einzuschlafen und in der Nacht hatte ich Alpträume.

 

 

Was muß ich tun, damit du mir glaubst?

Morgends nach dem Frühstück sagte die Heilerin Maria: "So und eines wollte ich dir noch sagen, Simon. Erst spielst du mir gegenüber den Kranken, der keine anständige Arbeit leisten kann und dann machst du abends einen Ausflug. Du bist einfach nur ein verwöhntes Balg. Heute Abend kommst mit und hilfst mir bei der Arbeit."
Einen Augenblick war ich sprachlos vor Wut über diese Ungerechtigkeit. Dann brüllte ich sie an:
"Du verflixtes hochnäsiges Miststück! Sei froh, daß du gearbeitet hast und nicht bei den Engeln..."
Ich wurde durch einen Schmerz unterbrochen, als würde mir die Kehle durchgeschnitten. Ich griff mit der Hand dorthin und versuchte verzeifelt, Luft zu bekommen. Da wurde mir klar, daß Maria ja gar nicht gewußt hatte, was am Abend vorher mit mir losgewesen war und daß sie sich deshalb wahrscheinlich Sorgen gemacht hatte.
"Wo warst du gestern? Und erzähl nicht bei den Engeln. Die interessieren sich nicht für so unwichtige Menschen wie dich." sagte sie. "Schön wärs" dachte ich und fragte ärgerlich:
"Sag mal, was muß ich eigentlich tun, damit du mir glaubst?"
"Bist du fähig, eine Wahrheitsprobe zu machen?" fragte sie.
"Ja." sagte ich.
Es war nicht üblich, daß Essenerschüler in meinem Alter das schon lernen.

"Dann komm." sagte sie, als hätte sie mit dieser Antwort gerechnet.
Sie führte mich zum Dorfbackofen und ließ sich dort etwas Glut geben. Ich ging in die Knie, entspannte und konzentrierte mich und ließ mir dann von ihr die Glut in die geöffnete Hand legen.
"Stimmt es, daß du bei den Engeln warst." fragte sie.
Ich nickte stumm.
"Antworte richtig!" befahl sie.
"Das kann ich nicht." antwortete ich und deutete mit einer Bewegung zur Kehle an, was ich meinte.
"In Wirklichkeit warst du doch nur besoffen." warf sie mir vor.
"Nein." antwortete ich.
"Antworte mit Ja." hörte ich eine Stimme, die aus dem inneren meines Kopfes zu kommen schien.
Ich warf die Glut zurück in den Ofen und schwieg halsstarrig. Maria die Heilerin untersuchte aufmerksam meine Hand, die vollkommen unbeschädigt war.
"Das stimmt tatsächlich." sagte sie leise.
"Ja. Warum hätte ich es erfinden sollen?" fragte ich.
"Ich weiß es nicht. Ramajan hätte so etwas nie getan."
"Ich habe hier die Auswertung des Intelligenztests. Ich lese sie dir vor, weil ich auch wissen will, was du dazu meinst." sagte ich.
Das Ergebnis war überraschend. Für meine Ohren war in dem Text ganz klar gesagt, daß ich ihnen zu klug war und daß sie deshalb durch Folter meinen Willen brechen wollten. Maria verstand, daß sie mich für verwöhnt hielten und daß sie deshalb nicht alles machen wollten, worum ich bitte. Als wenn in den Raumschiffen der Engel jemals meine Wünsche eine Rolle gespielt hätten. Sie war einfach zu naiv. Sie vertraute den Engeln blindlings. Nachher habe ich nicht wieder mit ihr darüber gesprochen. Vielleicht war nur gut, daß sie nicht bescheid wußte.

 

 

Das verpflichtet ihn nicht zu absoluter Naivität

"Wohnt die Weberin Maria eigentlich noch hier?" fragte ich nach der Mutter des späteren Königs-Jesus.
"Inzwischen wieder. Sie redet praktisch mit niemandem mehr. Tut nur still ihre Arbeit.
"Dann möchte ich gerne mit ihr reden. Wo finde ich sie?" fragte ich.
Maria die Heilerin zeigte auf das Haus, in dem sie ihren Webstuhl stehen hatte.

Die Handwebstühle der Frauen außerhalb der Essenerdörfer waren nicht breiter als eine halbe Armlänge und bestanden nur aus einem rechteckigen Rahmen, den man problemlos in jedem Zimmer an die Wand stellen konnte. Die Webstühle der Essener dagegen waren so breit, daß man damit ein Tuch mit einer Breite von 1,50m weben konnte, aus dem man die Kleider ohne Mittelnaht an Brust und Rücken nähen kann und hatten eine Mechanik, die die Arbeit erheblich beschleunigte, aber den Webstuhl auch zu einem sehr großen Möbelstück machten. Erst im Mittelalter wurden vergleichbare Webstühle in ganz Europa üblich.

Maria, Jesu Mutter, hatte ein eigenes Zimmer zum Weben. Als ich hereinkam, flog das Webschiffchen gleichmäßig hin und her, während die mit dem Fuß zu bedienende Mechanik leise vor sich hin klapperte. Fast eine Stunde beobachtete ich sie nur schweigend beim Weben. Ihre Aura war so klar und rein, wie ich das noch nie zuvor bei einem anderen Menschen gesehen hatte. Und ich war immerhin vom Johannes selber ausgebildet worden. Ich fühlte mich wohl und geborgen in dem Zimmer, in dem sie arbeitete. Schließlich hielt sie bei der Arbeit inne und sah mich fragend an.
"Maria, ich wollte fragen, ob ich mit dir reden darf."
"Findest du etwa auch, daß ich mich zu sehr abkapsele?"
"Dazu kenne ich dich nicht gut genug."

Jetzt erst sah sie auf. Ich erschrak, als ich die tiefe Narbe sah, die quer über ihr Gesicht lief.
"Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?" fragte ich entsetzt.
"Du glaubst es mir doch nicht." sagte sie leise, ruhig, resigniert.
"Wieso, waren es etwa die Engel?" fragte ich scharf zurück.
"Ja."
"Das dachte ich mir. Wo sonst wird einem die Wahrheit nicht geglaubt?"
Sie sah mir überrascht gerade in die Augen.
"Maria, ich habe meine eigenen Erfahrungen mit Engeln." sagte ich.
"Die hat die kleine Maria auch und sie glaubt den Engeln trotzdem alles." entgegnete Maria.
Ich erzählte ihr in der Gedankensprache die Ereignisse des Vorabends.
"Du hast recht. Tojinia ist eine Sklavin. Aber sie ist zu stolz, das zuzugeben. Sie wurde bei einem Sternenkrieg gegen die Engel gefangengenommen. Jetzt untersteht sie direkt dem Herrn im Himmel." antwortete Maria.
Ich erzählte ihr meine Vermutungen, daß die Engel uns Essener vernichten wollten.
"So genau habe ich das nie ausgearbeitet. Aber die Absichten der Engel mit uns sind durch und durch schlecht. Ich meine nicht alle Engel. Ich kenne da einige sehr anständige. Aber die Führung ist sehr böse. Ich habe immer wieder einmal ein paar Bemerkungen zu dem Thema aufgeschnappt, die eigentlich nicht für mich bestimmt waren. Und die Essener sind zu naiv. Sie lachen mich nur aus, wenn ich sie warne. Ich kann es mir einfach nicht mitansehen, wie sorglos und glücklich sie sind, während oben schon ihre Vernichtung geplant wird." jetzt war ihre Stimme voller Schmerz.
"Es wäre noch schlimmer, wenn sie in der wenigen Zeit, die ihnen noch bleibt, auch noch unglücklich wären, Maria. Ich habe beschlossen, daß ich so viel wie möglich lerne, um ganz oben vielleicht eine Veränderung bewirken zu können." sagte ich.
"Was ist mit dem Johannes?" fragte sie mißtrauisch, weil sie beobachtet hatte, wie vertraut ich mit dem höchsten der Essener umgegangen bin.
"Mit ihm kannst du offen reden."
"Wie?"
"Er teilt unsere Meinung."
"Aber er ist doch der Johannes!"
"Das verpflichtet ihn nicht zu absoluter Naivität. Obwohl die Engel daran zu glauben scheinen." entgegnete ich lachend.
"Warum haben wir dann keine andere Politik?"
"Du weißt doch, was die Engel dann tun würden. Ich werde pausenlos überwacht." sagte ich.

 

 

Eine Unverschämtheit

Als der Johannes nach einigen Wochen das erste mal zu uns kam, rief er zuerst die Heilerin Maria zu sich und befahl mir, außer Hörweite zu warten, bis er alles Wichtige mit ihr besprochen hatte.

Ich sagte, daß ich zu der Weberin Maria ginge, um mich mit ihr ein wenig zu unterhalten. Johannes nickte nur und winkte mich beiläufig fort. Ich fragte mich, was mit ihm los war. Oder mochte er mich nicht so gerne, wie es mir erschienen war? Ich fühlte mich zurückgesetzt und riß mich dann zusammen. Ich bin kein kleines Kind mehr, das ohne die Liebe seiner Eltern nicht überleben kann, oder? Außerdem war es Johannes gutes Recht, sich selbst auszusuchen, mit wem er zuerst reden wollte, sagte ich mir. Dennoch war ich enttäuscht. Ich hatte mich so auf Johannes gefreut.

Bei Maria war ich nicht gesprächig. Das ist oft so - sie ist ein Mensch mit dem man gut schweigen und sich wohlfühlen kann. Doch sie merkte sofort, daß es diesmal einen anderen Grund hatte und fragte, bis ich ihr erklärt hatte, was los war.
"Ich habe eigentlich gar nichts erwartet. Nichts Bestimmtes. Aber ich wünschte, ich könnte jetzt bei ihm sein. Und ich komme nicht gegen meine Enttäuschung an, obwohl ich weiß, daß sie albern ist." sagte ich.
"Du solltest ihn einfach fragen, warum er zuerst mit ihr geredet hat. Vielleicht klärt das einiges für dich." sagte sie.
Ich nickte. Eine gute Idee.

"Wo hast du dich mit ihn verabredet?"
"Hier."
"Habe ich ihn zu mir eingeladen?" fragte sie ärgerlich.
"Nein. Ihr solltet euch kennen lernen." sagte ich.
"Und deshalb zwingst du mir jetzt eine Begegnung auf." stellte sie fest.
"Ja." sagte ich.
"Bin ich deine Schülerin, daß du solche Entscheidungen über mich triffst?"
"Nein. Eher umgekehrt. Aber ich kenne Johannes. Du nicht."
"Weißt du, daß du unverschämt bist?"
"Ja. Das ist ein Charakterzug von mir." antwortete ich und grinste sie jetzt so richtig unverschämt an.
Sie sah mir kurz in die Augen, stellte fest, daß ich nicht bereit war, mich zu entschuldigen und schwieg verärgert. Ich schwieg ebenfalls und blieb im Raum, obwohl ich mir sicher war, daß das ein Rausschmiß sein sollte.

Nach einer Zeit, die mir ewig erschien, kam Johannes herein und fragte sofort:
"Was ist denn hier los? Stiller Streit?"
"Ich war unverschämt." antwortete ich sofort, "Ich als Heiler habe ihr ein Gespräch mit dir verordnet."
"Wie?" fragte Johannes und lachte, "Simon mit dir erlebt man Überraschungen. Bist du nicht der höfliche junge Mann, der mich vorne und hinten bedient hat?"
"Die Rolle des Dieners war ein gutes Versteck." erklärte ich.
"Das habe ich gemerkt. Sonst hätte ich mir das auch gar nicht gefallen lassen." antwortete Johannes immer noch lachend, dann wurde er plötzlich ernst und fragte "Was ist an Maria so Besonderes, daß ich sie unbedingt kennen lernen muß?".
"Sie schätzt die Engel realistisch ein." erklärte ich in Gedankensprache.
"Ach so. Nun. Vielleicht ist es nicht verwunderlich. Sie war längere Zeit im Himmel und ist dann auch noch die Mutter des zukünftigen Königs-Jesus. Aber das Mädchen Maria betet die Engel ja auch immer noch an, obwohl sie von ihnen überwacht wird." meinte Johannes.
"Was die Engel angeht, habe ich einen Fehler gemacht. Lies. Beim Test warst du dabei."
Ich gab dem Johannes die Auswertung des Intelligenztests. Er las und reichte es an Maria weiter:
"Ich würde gerne wissen, wie du diesen Text verstehen würdest."
Maria las und schlug die Hände vors Gesicht.
"Mein Gott. Womit hat er das verdient?"

"Du hast recht Simon. Eine ungewöhnliche Frau." sagte Johannes, "Maria, du hast doch im Helios-Tempel eine Einweihung gemacht."
"Zwei." antwortete Maria.
"Dann sind unsere Listen unvollständig. Bist du bereit, eine dritte zu machen?"
"Warum ich?" fragte Maria.
"Ich bin es leid, nur Idioten im Rat zu haben." wechselte Johannes in die Gedankensprache.
"Wie, nur Idioten?" fragte Maria fassungslos.
"Die Engel betreiben eine Politik, bei der jedem klarsichtigen Menschen auffallen muß, daß sie unser Volk in den Untergang führt. Die Mitglieder des Hochgeweihten Rates kann man schütteln, sie sind nicht bereit, diese Wahrheit zu sehen. Lieber glauben sie daran, daß die Engel schon mit ihren Raumschiffen kommen werden, um uns vor unserer eigenen Dummheit zu retten." erklärte Johannes.
Maria konnte es nicht fassen.

"Johannes. Maria hat mir eine Frage verordnet: Warum wolltest du zuerst mit Maria sprechen?"
"Bist du jetzt beleidigt?"
"Nein. Ich fühlte mich zurückgesetzt. Ich habe mich deshalb über mich selbst gewundert."
"Maria fühlt sich zu Recht mißachtet. Sie ist hier die erfahrene Heilerin. Besser als Jesus Tios es je war. Dennoch erhältst du alle Bewunderung."
"Wie sieht sie mich?"
"Du bist ein unerfahrener Junge, der auf Karmel jeden Klimperkram gelernt hat und jetzt mit diesem Wissen um sich wirft, aber nichts Vernünftiges zustandebringt." antwortete Johannes.
"Sie hat recht. Ich verliere den Überblick. Wenn ich will, daß meine Arbeit von Nutzen ist, muß ich mich ihr unterordnen." antwortete ich.
Johannes nickte.
"Tust du das auch?" fragte er.
"Beim ersten mal, als wir zu Zeloten gerufen wurden, hatte ich es noch nicht begriffen. Beim zweiten mal habe ich mich bemüht. Es ist schwierig. Statt Befehle zu geben, hackt Maria auf mir herum." erklärte ich.
"Sie hat zu wenig Selbstbewußtsein, um deine Unterordnung als selbstverständlich hinzunehmen. Deshalb ziehe ich sie so offensichtlich vor. Du kannst damit umgehen, wenn man dich ungerecht behandelt und zurücksetzt. Du hast ein beinahe unangreifbares Selbstbewußtsein."
"Johannes, dir gegenüber bin ich da verletzlich." sagte ich.
"Warum? Die Meinung des versammelten Lehrerkollegiums hat dich nicht interessiert, wenn du von etwas überzeugt warst."
"Tja, Johannes. Du bist halt etwas Besonderes. Warum weiß ich auch nicht. Aber dir vertraue ich bedingungslos."
Johannes betrachtete mich lange nachdenklich. Ich erwiderte ruhig seinen Blick und wartete entspannt, auf das Ergebnis seiner Überlegungen. Er teilte sie mir nicht mit, verließ nur nach einer Stunde des friedlichen Schweigens das Zimmer.

"Er ist ein seltsamer Mensch." sagte Maria, sobald er den Raum verlassen hatte.
"Bist du mir immer noch böse, daß ich ihn hierher geholt habe?"
"Nein. Du hattest recht."
Ich nickte und sagte:
"Du hast die Auswertung genauso verstanden wie ich. Die Heilerin Maria hat etwas ganz anderes hineininterpretiert."
"Das kann ich mir denken. Aber was wirst du nun machen?"
"Es durchstehen, Maria. Nicht umsonst haben wir in Karmel für solche Gelegenheiten das richtige Unterrichtsfach: Geistiger Kampf, die Fähigkeit, mit Folter fertig zuwerden. Wenn sie mich foltern wollen, muß ich mich damit abfinden. Sie haben die Macht dazu."
"Der Johannes hält viel von dir. Du hast mit deinen Worten den Grund für meinen Ärger genau auf den Punkt gebracht. Er hat keinen Augenblick angenommen, daß es um meine geistige Gesundheit gehen könnte. Er ist davon ausgegangen, daß du ihm einen wichtigen Menschen vorstellen willst und er hat sich auf dein Urteil verlassen. Wie lange kennt ihr euch?" sagte Maria.
"Ich habe ihn bisher vier mal gesehen, bevor wir von Jerusalem nach hier aufgebrochen sind."
"Ihr redet miteinander, als würdet ihr euch ein ganzes Leben kennen. Ihr sprecht nur in Andeutungen." stellte Maria fest.
"Ich fühle mich auch, als würde ich ihn schon seit Ewigkeiten kennen." antwortete ich.

Bevor Johannes am nächsten Tag das Dorf verließ, sagte er mir noch:
"Ach übrigens Simon, bring der kleinen Maria so viel wie irgend möglich von diesem Klimperkram, den du in Karmel gelernt hast, bei. Maria hat das Zeug dazu, die beste Heilerin der Essener zu werden. Deshalb sollte sie die Möglichkeit dazu geboten bekommen, auch wenn ich eine Frau nicht nach Karmel schicken kann."
Ich nickte.

 

 

Ein Rat für Torion

Noch an demselben Tag wurde ich hinausgerufen zum Raumschiff der Engel. Ich trat wie üblich ein und begrüßte die Anwesenden. Es waren Tojinia und Ramajan.

"Zieh dich aus und leg dich auf die Behandlungsliege." sagte Tojinia.
Ich gehorchte und wurde dort festgeschnallt wie immer.
"Heute lernst du, was Schmerzen sind." teilte mir Tojinia mit, befestigte einige bunte Drähte an meinem Körper und legte einen Hebel um. Rasende Schmerzen jagten durch meinen Körper. Stundenlang. Bis ich die Besinnung verlor.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich immer noch auf der Behandlungsliege. Die Schmerzen hatten nur unwesentlich nachgelassen. Ein fremder Engel war da und beobachtete die Kontrollen der technischen Geräte. Dann erst ging mir auf, daß ich mich in einem anderen Raum befand. Durch eine durchsichtige Wand konnte ich riesige Sterne vor einem samtschwarzen Himmel sehen.
"Wo bin ich?" fragte ich.
"Im Himmel." antwortete er und sah mir aufmerksam in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick.
"Mein Gott. Du bist ja noch ein Kind." sagte er schockiert.
"Und?" fragte ich.
"Mein Gott, jetzt foltern wir schon Kinder."
Ihm kamen die Tränen.
Ich fand das albern:
"Ja. Und du beteiligst dich daran."
"Nein, ich achte doch nur darauf, daß du gesund bleibst." erwiderte er verunsichert.
"Kann das zu dauerhaften Gesundheitsschäden führen?" fragte ich.
"Es kann dich umbringen." meinte er.
Sie würden mich nicht umbringen, denn einen Toten kann man nicht mehr dazu zwingen zu gehorchen.
"Das sind zwei verschiedene Fragen. Es gibt Dinge, die dazu führen können, daß das Herz aufhört zu schlagen, ohne daß sie zu Dauerschäden führen können, falls das Herz nicht aussetzt. Und es gibt Dinge, die können einen praktisch nicht umbringen, dennoch machen sie einen für den Rest des Lebens zum Krüppel." erklärte ich.
"Es kann dir auch für den Rest deines Lebens Dauerschmerzen bescheren oder dich dauerhaft lähmen, weil es die Nervenfasern beschädigen kann." antwortete er.
Ich nickte. Das hieß, daß ich solche Foltern besser nicht unnötigerweise herausfordern sollte. In dem Augenblick kam Tojinia herein, erkundigte sich, ob ich gesund sei, der Engel bejahte das und sie legte erneut den Hebel um, der die Foltermaschine in Gang setzte. Ich verlor durch die Schmerzen bald wieder das Bewußtsein.

Als ich das nächste Mal wieder aufwachte war nur Tojinia da. Ich blieb unbeweglich liegen, dennoch entnahmsie den Anzeigen ihrer Geräte, daß ich wach sein mußte und setzte das Foltergerät wieder in Gang.

Das darauffolgende Mal war wieder der andere Engel da. Ich fragte:
"Wie heißt du?"
Er drehte sich zu mir um und fragte erstaunt:
"Du bist schon wach?"
"Ja. Wie heißt du?" wiederholte ich meine Frage.
"Torion."
"Was meinst du, wie lange sie das noch machen?" fragte ich.
"Nicht so lange. Dein Körper zeigt schon die ersten Ausfallerscheinungen." antwortete er.
"Warum beteiligst du dich an so etwas? Es ist doch vollkommen gegen deine Grundsätze." fragte ich.
"Ich habe eine Familie zu ernähren."
"Willst du deine Familie wirklich durch Foltern ernähren?" fragte ich zurück.
Er weinte: "Nein."
"Warum tust du es dann? Du setzt deinem Handeln keine Grenzen. Deshalb können deine Vorgesetzten dich zu allem bringen. Auch zu Dingen, die du dir bis jetzt noch nicht vorstellen kannst. Oder hättest du es dir vor Kurzem vorstellen können, ein Kind zu foltern?"
"Nein. Du hast Grund mich zu hassen."
"Das mag sein. Aber ich hasse dich nicht. Ich warne dich nur, wohin dein weiterer Weg dich führen wird, wenn du dich nicht besinnst."
"Ich bin mir sicher, auch bei euch Engeln gibt es mehr als eine Möglichkeit, eine Familie zu ernähren und von diesen Möglichkeiten ist auch mehr als eine moralisch tragbar. Mit dem was du da gerade tust, zerstörst du am Ende nur dich selbst."
"Du hast hier nichts zu schaffen. Wenn du dich nicht schnell weigerst, werden sie dich noch zu viel übleren Dingen bringen, als tatenlos dabeizustehen, wenn andere mich foltern. Euer Herr, der Mann, mit dem ich in deiner Gegenwart gesprochen habe, ist ein Verbrecher. Er versucht den Willen jedes Menschen zu brechen, den er in die Finger bekommt. Und Tojinia ist seine willige Handlangerin."
"Genau dasselbe hat mir Karaha gesagt. Und daß sie sie damals dazu gebracht haben, ein Kind zu foltern und dieses Kind hat ihr den besten Ratschlag seines Lebens gegeben. Den, sich zu weigern." erzählte er.
"Das Kind war ich. Karaha ist eine gute Freundin von mir. Ich würde mein Leben in ihre Hände legen." sagte ich.
"Warum? Sie hat dich gefoltert."
"Sie würde es aber nie wieder tun."

Tojinia kam herein, sah mich triumphierend an und sagte boshaft:
"Ich habe dich erwischt: du hat versucht Torion dazu zu bringen, daß er auffört zu foltern. Jetzt endlich darf ich dich bestrafen!"
Da fiel mir auf, daß das Triumphgefühl an der falschen Stelle auftauchte. Sie freute sich nicht, mich foltern zu müssen - im Gegenteil. Ihr hatte gefallen, daß ich die Pläne der Engel vereitelte. Sie hatte mir nicht ausversehen alles erzählt, was ich wissen wollte, sondern absichtlich. Ich lächelte und sagte ihr ernst:
"Tojinia, dein Haß zerstört nicht deine Feinde sondern dich. Um deiner selbst willen solltest du lernen, darüber hinauszuwachsen."
Sie starrte mich zuerst verwirrt an, dann begriff sie, daß ich sie durchschaut hatte und schimpfte schließlich demonstrativ mit dem Engel, weil er mich nicht gefoltert hatte. Er weigerte sich, dergleichen jemals wieder zu tun."
Ich fragte mich, ob er schon einmal einen Menschen gefoltert hatte. Da fragte mich Tojinia:
"Was hast du nur mit Torion gemacht? Er weigert sich, weiter hier zu arbeiten."
"Ich habe mich nur ein wenig mit ihm unterhalten. Darf ich das nicht?" fragte ich.
"Nein. Du darfst dich überhaupt nicht mit Engeln unterhalten. Wie fühlt sich dein Körper an?"
Ich sagte nichts.
"He, ich habe dir eine Frage gestellt!"
Ich schwieg.
Tojinia setzte die Foltermaschine in Gang und ich verlor die Besinnung.

Als ich beim nächsten Gespräch immer noch nicht antwortete, fragte sie schließlich, warum ich nicht reden würde.
"Wieso? Du hast mir doch gesagt, daß ich mich überhaupt nicht mit Engeln unterhalten darf!" sagte ich mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck. "Ab jetzt beantwortest du unsere Fragen wieder, klar?"
Ich nickte. Und sie folterte mich wieder.

 

 

Besoffen

Am nächsten Tag wurde ich nahe unserem Dorf freigelassen. Sie verboten mir, über die Foltern zu reden.

Als ich nach Hause kam, wurde ich von Maria empfangen, die wütend darüber war, daß ich drei Wochen weggewesen war, ohne ihr vorher bescheidzusagen. Ich versuchte ihr zu erklären, was los war, wurde jedoch dadurch zum Schweigen gebracht, daß die Engel mir diese Schmerzen per Funk übertrugen. Ich brachte nichts Verständliches heraus. Maria kam zu dem Schluß, daß ich besoffen sei und war davon nicht abzubringen.

Ich versuchte noch mehrfach, ihr zu erklären, was los war, wurde aber jedesmal erwischt und wieder zum Schweigen gebracht. Schließlich gab ich es als sinnlos auf.

 

 

Wissenschaftliche Experimente

Danach kam mir ein Gedanke und er ließ mich nicht mehr los: Ich könnte mich vor ihnen verstecken. Nicht aus Angst. Aus Neugier. Das letzte mal, als ich das versucht hatte, war ich drei gewesen. Meiner Ansicht nach, mußte sich so ein Sender, wie sie ihn mir eingepflanzt hatten, in unterschiedlicher Umgebung auch unterschiedlich verhalten.

Also probierte ich alle Verhältnisse, die meiner Ansicht nach einen solchen Sender beeinflussen könnten, systematisch durch. Ich hielt mich ein paar Tage nur zwischen Menschen auf, bis sie mich anfunkten, ich solle zum Schiff kommen. Ich gehorchte nicht und wurde gefoltert, bis ich mich nicht mehr rühren konnte. Dann kamen die Engel ins Dorf, erklärten den Essenern, sie würden sich um mein gesundheitliches Problem kümmern, nahmen mich mit auf ihr Schiff und folterten mich eine Woche zur Strafe für mein Ungehorsam. Ich wußte nicht, wie lange es gedauert hatte, bis Maria mich mit ihrer Schimpftirade darüber aufklärte. Danach versteckte ich mich in einer natürlichen Höhle in der näheren Umgebung des Dorfes, mit demselben Ergebnis. Danach in der nahegelegenen von Engeln gebauten Einweihungshöhle. Nachdem ich alles durchprobiert hatte, was mir einfiel, kam ich zu dem Schluß, daß das Gerät schon durch die verschiedenen Umstände beeinflußt wurde. In der natürlichen Höhle waren die Signale merklich abgeschwächt angekommen. Die Foltern waren zuerst schwächer gewesen, hatten jedoch erheblich länger gedauert, bis sie aufhörten. Und davon, durch die Umstände ausgelöscht zu sein, waren sie sehr weit entfernt gewesen. Am stärksten war der Empfang in der Einweihungshöhle gewesen. Nach jeder solchen Aktion war ich eine Woche gefoltert worden.

Drei Tage später wurde ich schließlich wieder auf das Schiff der Engel gerufen. Diesmal ging ich sofort hin, da meine Experimente abgeschlossen waren. Ich trat wie üblich ein und begrüßte die anwesenden Engel. Es waren Tojinia und Ramajan.
"Zieh dich aus und setz dich auf den Stuhl dort." sagte Tojinia.
Ich gehorchte und bekam mehrere Nadeln mit Widerhaken an der Spitze an sehr empfindlichen Stellen in die Haut geschossen. Ich ließ das still über mich ergehen und sah Tojinia fragend an.
"So, jetzt wirst du lernen zu gehorchen." sagte sie.
"War ich bisher so ungezogen?" fragte ich.
Rasende Schmerzen durchzogen meinen Körper.
"Du wirst lernen zu gehorchen, ohne zu fragen." sagte sie.
Ich zitterte und schwieg. Das konnte ja heiter werden.

"Vor dir ist eine glühende Metallplatte. Du legst deine Hand darauf und läßt sie dort liegen." sagte Tojinia.
Ich zögerte einen Sekundenbruchteil und die Schmerzen durchjagten erneut meinen Körper. Mir kamen die Tränen, die ich schnell wieder herunterschluckte und mich auf die Lehren in Geistigem Kampf besann.

Protestiere niemals gegen eine Folter. Zeige nie, daß du etwas dagegen hast, Schmerzen zugefügt zu bekommen. Verrate niemanden, daß du immer noch deinen eigenen ungebrochenen Willen hast. Laß jede Mißhandlung ungerührt über dich ergehen, ohne Schmerzen oder auch nur Unbehagen zu zeigen. Weigere dich sogar, Unbehagen zu fühlen. Bleibe ganz mit dir in Frieden. Erst, wenn dir jemand befiehlt, Unrecht zu tun, weigere dich.

"Du wirst lernen, sofort zu gehorchen. Leg deine Hände auf die glühende Metallplatte." sagte Tojinia.
Ich gehorchte und stellte fest, daß sie gar nicht glühte. Ich sah Tojinia fragend an. Sie hielt mir ein Messer mit der Spitze nach oben hin und befahl mir:
"Schlag hier mit der Hand drauf."
Ohne zu zögern schlug ich zu und rammte mir damit das Messer durch den Handteller. Ich sah Tojinia an, um ihre Reaktion zu beobachten.
"Gut."
Ich wunderte mich, daß sie daran nichts auszusetzen hatte. "Mach mit der anderen Hand dasselbe." befahl sie.
Wieder gehorchte ich, ohne zu zögern und sah sie an.
"Du darfst mich nicht ansehen. Ich stehe himmelhoch über dir." erklärte sie mir mit einem erneuten Schauer an Schmerzen.
Ich senkte den Blick. Durch Ungehorsam war nichts zu gewinnen.
Sie holte das Gerät, mit dem sie Operationswunden wieder verschloß, stellte es an und als das Messer so richtig schön mit der Hand verwachsen war, befahl sie:
"Jetzt zieh deine Hand wieder herunter."
Mit einigem Kraftaufwand riß ich mich vom Messer los. Sie heilte die Wunden in meiner Hand danach richtig. Beinahe hätte ich sie neugierig angeschaut, zwang mich aber, den Blick unten zu halten, damit sie nicht merkte, daß sie mich nicht einmal verunsichert hatte.

Wie konnte ich sie dazu bringen, meine Fragen zu beantworten, ohne daß ich etwas tat, das sie als Ungehorsam klassifizieren konnte? Mir fiel nichts ein. Aber es gab bestimmt einen Weg.

Mit Gewalt riß sie die Nadeln heraus und verschloß sie mit dem Heilgerät. Das war für sich genommen schon eine Folter. Ich ließ es ungerührt über mich ergehen.

 

 

Deine Neugier bringt dich noch einmal um

Am Tag darauf kam Johannes zu Besuch. Ich wartete, bis er sich mit der kleinen Maria besprochen hatte und traf mich dann mit ihm in Marias Webzimmer.
"Johannes, ich will etwas mit dir bedenken." sagte ich.
"Was liegt dir auf dem Herzen?" fragte er und wartete, daß ich anfing zu reden.
Ich legte den Finger auf den Mund und wiederholte:
"Denken."
Da begriff Johannes und baute einen telepatischen Kontakt auf. Schade, daß die Heilerin Maria das nicht konnte. Vielleicht hätte ich ihr dann verständlich machen können, warum ich so oft so lange spurlos verschwunden war.

Ich erinnerte mich an die Foltern der letzten Wochen und meine Reaktionen darauf. Als ihm klar wurde, was ich getan hatte, erschrak Johannes bis ins Mark:
"Mein Gott, Simon, deine Neugier bringt dich noch einmal um! Ab jetzt wirst du widerstandslos gehorchen, wenn sie dich rufen und so lange, ohne eine Regung zu zeigen, tun, was sie dir befehlen, bis sie überzeugt sind, sie hätten deinen Willen gebrochen. Und jetzt geh. Mehr habe ich dir nicht zu sagen." dachte Johannes mir scharf zu.
Vollkommen geknickt wegen dieses berechtigten Tadels ging ich in das kleine Haus, das ich mit Maria teilte. Wieder einmal wunderte ich mich, warum mir seine Meinung so viel bedeutete. Es hatte mich noch nie interessiert, wenn ein Erwachsener, gleich wer, mich ausschimpfte. Aber Johannes konnte mich damit ins Mark treffen.

Abgesehen davon hatte er natürlich recht mit seiner Kritik. Meine Neugier hatte mich dazu bewegt, den Intelligenztest mitzumachen, der mir diese Foltern eingebracht hatte - und mir war klar gewesen, daß ich intelligenter bin als die meisten Engel und Menschen. Ich hätte darauf kommen können, daß die Engel mir eine solche Überlegenheit nicht lassen wollen würden. Die Experimente über die Funktion der Funkgeräte konnte man dann in Anbetracht der Situation nur noch als absoluten Wahnsinn einstufen.

Es ist mir selten etwas so schwer gefallen, wie Johannes in der Situation zu gehorchen. Folter ist an sich schon etwas, das einige Nerven kostet. Aber dann nicht einmal seiner Neugier nachgeben zu dürfen, nicht Tojinia so lange ärgern dürfen, bis sie einem alles erzählt hat, was sie mir eigentlich nicht sagen durfte. Habe ich mich gelangweilt!

Und dann kam ich nach Hause und diese Maria, machte mir den Vorwurf, ich wäre ein Säufer und unzuverlässig, obwohl ich doch nun wirklich nichts daran ändern konnte, daß die Engel mich ständig entführten und folterten. Die Wahrheit konnte ich ihr nicht einmal sagen, geschweige denn, daß sie bereit gewesen wäre, sie mir zu glauben. Wenn Johannes zu Besuch kam, habe ich in seinen Armen nur geweint.
Nach zwei weiteren Monaten gaben die Engel ihren Versuch, meinen Willen zu brechen, als erfolgreich gelungen auf und ließen uns in Ruhe. Tatsächlich hatte meine Entschossenheit, ihre bösen Pläne zunichte zu machen, nur zugenommen. Über die Engel habe ich mich danach mit Arid, Maria und Johannes nur noch telepatisch unterhalten. Sie sollten nicht erfahren, daß ich immer noch genauso über sie dachte, wie vor der Folter.

 

 

Eine Wiedergutmachung

Bei der Heilerin Maria war ich zu dem Zeitpunkt, als die Foltern aufhörten, schon endgültig unten durch. Sie beschimpfte mich bei jeder Gelegenheit als unzuverlässig und verantwortungslos, so daß ich es bald als sinnlos aufgab, dazu auch nur irgendetwas zu sagen. Ich schaltete einfach auf taub, wenn sie wieder mit ihren ungerechtfertigten Vorhaltungen ankam. Zwei Jahre lang arbeitete ich mit ihr zusammen, ohne daß sich etwas an ihrer Haltung mir gegenüber änderte. In der ganzen Zeit war ich bestimmt kein einziges Mal nachlässig. Ich habe wie jeder Mensch das ein oder andere Mal einen Fehler gemacht. Aber sie machte auch nicht weniger Fehler als ich, obwohl sie sehr sorgfältig arbeitete. Sie lernte übrigens sehr schnell, was ich ihr beizubringen hatte. Sie hatte wirklich das Zeug dazu, die beste Heilerin der Essener zu werden. Auch ich lernte in der Zeit viel von ihr. Auch wenn ich die Planung unsere Arbeit immer noch ihr überließ, merkte ich gegen Ende dieser zwei Jahre, daß ich es genauso gut konnte wie sie.

Schließlich verlor ich die Geduld damit und fragte Johannes um Rat.
"Du solltest ihr Wiedergutmachung anbieten, dafür daß du in den ersten Monaten so lange weg warst."
"Warum ich? Habe ich ihr jemals Unrecht getan?" fragte ich empört.
"Nein. Es war dumm von dir, daß du damals auch noch herumexperimentiert hast. Aber Maria gegenüber hast du dich die ganze Zeit korrekt verhalten. Wenn sie wüßte, was in dieser Zeit wirklich los war, könnte sie sich nicht beklagen. Es hat ihr sehr wehgetan, daß du sie gerade in der Zeit mit ihrer Aufgabe alleingelassen hast, als sie sich noch sehr unsicher fühlte. Du solltest ihr Wiedergutmachung anbieten. Nicht weil du falsch gehandelt hättest, sondern weil sie verletzt ist und deine Hilfe braucht, um darüber hinwegzukommen."
Ich sah Johannes an und dachte lange über seine Worte nach. Er hatte recht.

Dann ging ich zu Maria und sagte ihr:
"Maria, daß ich dich damals sehr verletzt habe, als ich das erste halbe Jahr so oft weg war. Du hast einen Wunsch bei mir frei. Was kann ich tun, um das wieder gutzumachen?"
"In Zukunft mußt du mir gehorchen." forderte sie.
"Gut. Solange du nichts Verwerfliches von mir verlangst, werde ich tun, was du mir sagst." antwortete ich.

Das Arbeitsklima wurde beinahe sofort angenehmer. Zuerst wollte sie mich offensichtlich provozieren, indem sie mir jede Aufgabe zuschob, die sie nicht mochte oder die sie anekelte. Doch wenigstens gab sie mir Anweisungen, die ich ausführen konnte, statt wie bisher ohne Sinn und Verstand auf mir herumzuhacken. Also tat ich, was sie sagte und ließ mich durch nichts provozieren. Schließlich hatte ich unter schwierigeren Umständen gelernt, einfach nur zu gehorchen. Nach ein paar Tagen ließ ihr Eifer, sich unangenehme Aufgaben auszudenken, schon nach. Nach zwei Monaten, war die Aufgabenverteilung gerecht, dann sparte sie sich die ständigen, unnötigen Befehle, weil sie merkte, daß ich auch so wußte, was ich zu tun hatte und nach einem halben Jahr kam sie zu dem Ergebnis, daß ich genau der Mann war, den sie heiraten wollte. Ich amüsierte mich über den Erfolg dieser Wiedergutmachung, die in Marias Kopf wirklich Einiges wieder gut gemacht hatte, was dort im Argen lag.

Wir heirateten also, als ich siebzehn war und sie fünfzehn.

Viel zu früh, in den Augen der Dörfler. Zwei Kinder. Daß wir zu der Zeit schon die berühmtesten Heiler des Landes waren, interessierte bei uns im Dorf niemanden. Wir waren einfach zu jung und unerfahren, um gute Heiler zu sein. Punkt.

 

 

Eine Frage der Ehre

Am Tag nach der Hochzeit wurden wir wieder von Zeloten zu Verletzten gerufen. Wir gingen hin und taten unsere Arbeit. Doch bevor wir fertig waren, kamen die Römer wieder und griffen das Dorf erneut an. Vor dem Haus, in dem wir arbeiteten, lief eine Schlacht ab. Ich machte ungerührt weiter.

Ein Essenerheiler, der unerwarteterweise mitten in Kampfhandlungen hineingerät, arbeitet weiter, ohne den Kampf eines Blickes zu würdigen. Das ist eine Sicherheitsfrage. Es führt dazu, daß die kämpfenden Parteien ihn automatisch umgekehrt auch nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie nur auf Menschen achten, die ihnen gefährlich werden könnten.

Die Römer gewannen, sahen sich im Dorf um und erschlugen jeden, den sie dabei fanden - jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Zum Schluß kamen sie zu uns und erstachen die Verletzten der Reihe nach. Ich konnte nichts tun. Ich gab nicht zu erkennen, daß ich sie überhaupt bemerkte, arbeitete einfach weiter, indem ich um Heilung für meinen augenblicklichen Patienten betete. Schließlich kam der Römer zu mir, erstach den Patienten und stieß mich grob an.

"Jetzt bist du an der Reihe."
"Friede sei mit dir." grüßte ich ihn und lächelte ihm zu.
"He, du bist jetzt dran, mit dem Sterben." wiederholte er.
"Ja. Friede sei mit dir." wiederholte ich den Gruß ruhig und sah ihm offen in die Augen.
Er holte mit dem Messer demonstrativ aus stach zu und wurde von den Rippen aufgehalten. Insgesamt war es nur ein Kratzer. Ich schloß daraus, daß der Römer mich nicht wirklich hatte erstechen wollen. Er wußte zweifellos, daß er das Messer nur um 90 Grad hätte drehen müssen, damit es zwischen den Rippen hindurchgleiten und mein Herz treffen kann. Ich strahlte ihn an.
"Der hier ist verrückt geworden." sagte der Römer trocken zu seinen Kameraden.
Ich mußte über diese Bemerkung lachen, was den Eindruck der Römer nur noch bestätigte. Eigentlich gibt es keinen logischen Grund, weshalb man Verrückte nicht erstechen sollte. Dennoch wurde ich nur in Ketten gelegt und abgeführt.

Dann marschierten sie mit mir ab und Maria stand im Dorf und sah mir entsetzt nach. Ich wunderte mich, daß sie noch lebte, wo die Römer doch selbst die Babys erstochen hatten.

Als Gefangener war ich ein schrecklicher Langweiler. Ich beobachtete die Wolken am Himmel und bewunderte ihre schönen Farben. Die Soldaten fragten sich, was mich daran interessieren konnte. Ich gab auf die wüstesten Beschimpfungen nette Antworten. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß ich nicht verstand, wovon sie redeten. Die drei, vier Schläge, die sie mir versuchsweise gaben, ignorierte ich völlig, wies nur auf einen hübschen Vogel hin, der vor uns herflatterte. Schließlich gaben sie den Versuch auf, meine heitere Laune zu erschüttern und unterhielten sich über ihre eigenen Probleme.

Als sie in ihrer Garnison ankamen, mußten zwei Männer mich bewachen. Sie waren mit ihren Unterhaltungen bei ihren Familien angekommen. Einer von ihnen hatte eine kranke Tochter. Ich erkundigte mich nach genaueren Einzelheiten der Erkrankung und gab ihm dann eine Salbe für das Kind. Da bekam auch sein Kamerad Interesse an mir und fragte mich, ob ich auch seiner gelähmten Mutter helfen könne.
"Vermutlich ja. Dazu muß ich sie jedoch sehen." antwortete ich.
Also verließen die Männer ihren Posten und brachten mich zu der alten Frau.

Ich mußte einige Stunden arbeiten, um ihr verschmutztes Energiefeld zu heilen, während das gesamte Lager nach dem verschwundenen Gefangenen und seinen pflichtvergessenen Wächtern abgesucht wurde. Als ich endlich fertig war, konnte die Frau aufstehen - und sie fanden uns. Langsam machte mir die Geschichte Spaß, mit diesen ganzen Verwicklungen. Ich begrüßte die empörten Soldaten mit einem herzlichen Lächeln und sagte:
"Oh - ihr habt uns gesucht. Entschuldigt. Es tut mir leid, das ihr so viel Mühe damit hattet. Aber diese Frau war so schwer krank. Ihr müßt verstehen, daß ich mich zuerst um ihr Leiden kümmern mußte." entschuldigte ich mich.
Zuerst einmal blieb ihnen der Mund offen stehen. Dann besann sich der Zenturio doch noch auf seine Strafpredigt, die er für uns vorbereitet hatte und ließ uns allen dreien jeweils zehn Peitschenhiebe geben. Und nachdem ich noch eine unwesentliche Verletzung am Arm des Zenturios geheilt hatte, durften mich die beiden Soldaten freilassen.

"Und, war euch das die Schläge wert?" fragte ich.
"Ja. Aber warum hast du dich um unsere Familien gekümmert? Das hatten wir doch nicht verdient." fragte einer.
"Essenerheiler heilen auch die Verletzten ihrer Feinde. Das ist eine Frage der Ehre." antwortete ich mit einem alten Lehrsatz Karmels.

 

 

Getrübte Freude

Als ich nach diesem Erlebnis schließlich zu Hause ankam, war ich strahlender Laune. Ich ging in unser Haus und wurde dort von meiner Frau Maria und Johannes empfangen. Freudestrahlend begrüßte ich sie.
"Oh - du lebst? Und ich dachte schon, ich müßte eine junge Witwe trösten." begrüßte mich Johannes.
Ich kam herein und setzte mich zu ihnen. Dann erzählte ich ihnen, was ich an diesem Tag alles erlebt hatte.
"Hmm... Ich frage mich, was passiert wäre, wenn du den römischen Soldaten entgegengetreten wärest und sie sofort begrüßt hättest, als sie das Haus mit den Verletzten betraten." sagte Johannes.
"Vielleicht wären die Verletzten dann jetzt noch am Leben." überlegte ich, "Das nächste mal werde ich das ausprobieren." Mit meiner strahlenden Laune war es vorbei. "Du holst einen aber schnell wieder aus den Wolken, Johannes. Ich hatte mich gerade so gefreut, daß ich es geschafft habe, zu überleben." sagte ich.
"In Situationen, wo jedes richtige Wort einen Toten weniger und jedes falsche Wort einen Toten mehr bedeutet, ist ungetrübte Freude selten." antwortete Johannes.
Ich nickte. Dann war meine Leistung vielleicht gar nicht so schlecht. Aber ob ich die Verletzten hätte retten können? Ich wußte es nicht. Beim nächsten Mal würde ich die Römer sofort begrüßen.

 

 

Wahre Einweihungen

"Ach übrigends, bist du bereit, eine weitere Einweihung zu machen?" fragte Johannes unvermittelt.
"Ja, Johannes. Wenn du es für sinnvoll oder notwendig hältst, mache ich auch alle weiteren Einweihungen an einem Tag. Ich verlasse mich da ganz auf dein Urteilsvermögen." antwortete ich.
"Ich bin nicht unfehlbar." gab Johannes zu bedenken.
"Nein. Nicht unfehlbar. Aber du hast einen größeren Überblick darüber, weshalb es richtig oder falsch sein könnte, mir Einweihungen zu geben, als ich. Wenn du Fehler machen würdest, würde ich erst recht Fehler machen.
"Dann wirst du innerhalb des nächsten halben Jahres alle weiteren Einweihungen bestehen. Komm mit raus. Maria, du bleibst hier." sagte Johannes.
Ich war wieder einmal erstaunt, wie schnell das ging.

Johannes ging mit mir hinaus in die Nacht und forderte mich auf, mich an einer bestimmten Stelle hinzusetzen und dort zu warten, bis er wiederkäme.
"Du darfst den Platz nicht verlassen, egal was geschieht." schärfte er mir ein.
Ich setzte mich also hin, genoß die Schönheit der Nacht und wartete ab.

Bald darauf kam ein römischer Zenturio auf mich zu. Ich weiß sicher, daß es ein echter Römer aus einer nahegelegenen Garnison war, kein verkleideter Essener. Ich hatte ihn nämlich öfters gesehen. Es war normalerweise einer von denen, die einem vorbeikommenden Essenerheiler flüchtig zunicken und jegliche Übergriffe und Boshaftigkeiten bei ihren Leuten streng unterbinden. Er kam direkt auf mich zu und fragte mich, was ich denn hier in der Nacht mitten zwischen hundert Römern so mache.
"Ich warte hier auf einen Freund." antwortete ich und fragte mich, was er mit diesen merkwürdigen Worten gemeint haben könnte.
Der Römer zog sein Schwert, setzte es mir auf die Brust und fragte mich, ob ich denn keine Angst vor ihm hätte.
"Nein. Angst haben zählt nicht zu meinen Gewohnheiten." antwortete ich und versuchte vergeblich aus der Situation schlau zu werden.

Er rief laut: "Schlagt ihn tot!"
Rund um mich herum sprangen an die hundert römische Soldaten auf, die zwischen Findlingen auf der Lauer gelegen hatten und stürmten mit gezogenen Waffen auf mich zu. Als ihr Kreis geschlossen war, blieben sie wenige Meter von mir entfernt stehen. Ich sah sie nur schweigend und ruhig an. Bei der Übermacht war Widerstand zwecklos. Einige traten vor und verprügelten mich mit der flachen Klinge, bis ich zusammenbrach und mich nicht mehr rühren konnte.
"Steckt ihn in den Sack." befahl der Zenturio.
Tatsächlich kamen zwei Römer mit einem Sack, knebelten, fesselten mich und steckten mich dort hinein. Dann warfen sie den Sack über einen Esel und führten ihn etwa eine Stunde durch die Gegend. Sie unterhielten sich über all die Dinge, über die sich römische Soldaten unterhalten könnten und murrten über diese unverständliche nächtliche Übung.

Ich war verwirrt. War das ein dummer Zufall, der mir am Ende das Leben kosten würde, oder war es ein Bestandteil der Einweihung? Gegen beide möglichen Erklärungen sprachen unzählige Gründe. Für sie nur die Tatsache, daß ich in einem Sack auf einem Esel von Römern spazieren geführt wurde. Die ganze Situation widersprach allem, was ich je über Römer oder Essener gehört hatte.

Ich konnte nur abwarten. Also vertrieb ich mir die Zeit damit, daß ich die vielen Striemen heilte. Irgendwann wurde der Sack zu Boden geworfen und die gesamten Römer gingen einfach so weiter und ließen mich dort liegen. Wegen der Raubtiere machte mir das ernsthafte Sorgen. Ich versuchte mit den Fingern an die Knoten zu kommen, um mich von den Fesseln zu befreien. Das gelang mir nicht. Am Ende zerfaserte ich den Strick und riß jede Faser einzeln entzwei, bis ich die Hände frei hatte. Danach befreite ich meine Füße und zerfaserte die Schnur, mit der der Sack an der Seite zugenäht war, auf dieselbe Weise. Schließlich stand ich auf und stieß mir den Kopf. Es war stockdunkel. Nicht wie draußen in der Nacht, sondern wie in einer tiefen Höhle, ohne Sternenlicht, ohne Mondlicht. Nichts. Ich ging in die Knie und schnupperte. Der Geruch nach Wasser und Gestein. Vermutlich handelte es sich tatsächlich um eine natürliche Höhle. Ich tastete die Decke über mir ab. Sie war unregelmäßig und gewellt wie natürliches Gestein. Zur Seite hin wurde sie höher. Ich tastete mich dorthin und richtete mich auf.

Ein leichter Luftzug war zu spüren. Ich wandte mich in die Richtung, aus der er kam. Nach etwa hundert Metern landete ich vor einem Gitter. Verwirrt blieb ich stehen. Dann hörte ich hinter mir Schritte und Stimmen. Ich drehte mich um, sah das Licht einer Öllampe und wich in den Schatten aus.
"Er ist weg." sagte eine Stimme.
Ich blieb unbeweglich stehen und lauschte.
"Das verstehe ich nicht. Er war doch gefesselt."
"Ja. Hier sind die Schnüre. Und hier ist der Knebel. Der Bursche ist geflohen."
"Weit kann er nicht gekommen sein. Alle Türen sind zu. Sie haben ja sogar hinter uns wieder abgeschlossen, so als hätten sie erwartet, daß der Bursche frei ist."
"Wahrscheinlich kann man bei Essenern nie wissen, was sie machen."
"Was machen wir jetzt?"
"Suchen. Zumindest wird er uns mit ziemlicher Sicherheit nicht angreifen. Er ist ein Heiler. Er hat nicht kämpfen gelernt."

Während die Unbekannten alle Winkel der Höhle sorgfältig ausleuchteten, um mich zu finden, blieb ich einfach unbeweglich im Schatten stehen und hoffte, daß sie sich weiter unterhielten und mir so Erklärungen lieferten, was eigentlich los war. Sie taten mir nicht den Gefallen. Das nächste Wort wurde erst gesprochen, als sie in den Winkel leuchteten, in dem ich stand:
"Hier ist er."
Ich stand zwei bewaffneten Zeloten gegenüber. Lächelnd begrüßte ich die beiden und fragte, womit ich ihnen dienen könnte. Einer schlug mir mit einem Knüppel so fest auf den Kopf, daß ich die Besinnung verlor.

Als ich wieder zu mir kam, war ich in Ketten gelegt. Ich hatte die Kopfschmerzen, die nach einem solchen Schlag zu erwarten waren und war noch verwirrter. Hier roch es eher nach Vorratskeller und nach - Raubtieren! Zeloten halten keine Raubtiere. Ich lauschte. Ich hörte nur eine leises Atmen - nicht von mir. Zu langsam für einen Menschen. Ich richtete mich auf Knien auf und versuchte noch mehr herauszufinden. Ja - richtig - auch Raubtiere haben eine Aura. Ich mußte mich nur darauf einstellen, das zu sehen. Da lag ein schlafender Löwe. Er erwachte, reckte sich, stand langsam auf und kam zu mir herüber. Er war nicht angekettet. Ich spürte, daß er Hunger hatte. Ich betete um Frieden. Ruhe legte sich wie eine Decke über uns. Der Löwe kam herüber und schnupperte an mir. Ich hob eine Hand und kraulte ihn. Er rieb seinen dicken Kopf an mir und schnurrte behaglich. Dann kuschelte ich mich an den Löwen und schlief ein.

Raubtiere besänftigen gehört zur Ausbildung in Geistiger Kampf.

Als ich das nächste mal erwachte, verzehrte er gerade schmatzend sein Futter. Einen kleinen Rest nahm er ins Maul und brachte ihn mir. Ich lehnte ab, da ich mein ganzes Leben noch kein Fleisch gegessen hatte. Dann kraulte ich ihn wieder. Ein Trog mit Wasser war in Reichweite, so daß ich nicht dursten mußte.

Es müssen wohl einige Tage vergangen sein. Der Löwe hat noch zwei mal zu Fressen bekommen und mir jedesmal etwas angeboten. Manchmal war er auch nicht da. Er kam offensichtlich nur zum Fressen, zum Schlafen und wenn er von mir gekrault werden wollte, in diesen dunklen Raum.

Dann öffnete sich eine Falltür über meinem Kopf. Im Licht einer Öllampe schaute ein Mann zu mir herunter und rief:
"Hallo?"
"Ja." antwortete ich.
"Du lebst also noch. Gut. Hier ist der Schlüssel. Mach dich los und komm hoch."
Er warf ihn mir herunter. Ich öffnete die Schlösser der Ketten und kletterte dann die Strickleiter hinauf, die er mir herunterwarf. Oben standen zwölf Römer.

"Der Löwe hat ihn wirklich nicht gefressen." meinte einer fassungslos.
"Natürlich nicht. Sehe ich etwa so tot aus? Wo bin ich hier überhaupt?" entgegnete ich.
"Bei der Arena."
"Also wirklich bei Römern?"
"Ja. Was dachtest du, wo du sonst sein könntest? Hast du etwa geschlafen, als sie dich hierher gebracht haben?" entgegnete einer.
"Ja. Sie hatten mich bewußtlos geschlagen. Wo bringt ihr mich hin?" antwortete ich.
"In die Folterkammer." antwortete einer.
"Na klasse." dachte ich, ließ es aber widerstandslos zu, daß sie mich fesselten, mir die Augen verbanden und dann noch mehrere Säcke über meinen Kopf stülpten. Der Weg den sie mich führten, war bestimmt ein halber Tagesmarsch. Ein bißchen weit für einen Weg zu einer Folterkammer. Dem Boden nach zu urteilen, wanderten wir quer durch die Wüste und die Temperatur deutete auf eine nächtliche Wanderung hin. Die Soldaten redeten kein Wort. Ich grübelte über die Zeloten nach. Das Ganze gab absolut keinen Sinn.

Als sie schließlich die Binde von meinen Augen entfernten, war ich wirklich in einer Folterkammer. Nur die Römer waren durch zwei Wesen ersetzt worden, die aussahen wie eine Kreuzung zwischen Echsen und Menschen. Ich traute meinen Augen nicht.

Auf der Folterbank lag Johannes. Sein ganzer Körper war mit Blut verschmiert, doch sein Gesichtsausdruck war friedlich, wie schlafend. Mich erfüllte tiefste Trauer. Sie ketteten meine Arme so an die Wand, daß ich nicht umfallen konnte. Dann folterten sie mich, bis ich die Beherrschung über meine Muskeln verlor, indem sie den Schmerzsender der Engel aktivierten. Und dann folterten sie Johannes und ließen mich zuschauen. Als ich wieder sprechen konnte, erklärten sie mir, daß sie sofort aufhören würden, würde ich ihnen einige Dinge verraten. Sie fragten nach den Geheimnissen meines Volkes, die ich natürlich nicht verriet.

Die Foltern dauerten mit Sicherheit einige Tage. Dann irgendwann saß ich zusammen mit Johannes in einem Kerker und er fragte mich lächelnd, wie es mir denn in den letzten Tagen so ergangen sei.
Ich erzählte in der Gedankensprache meine merkwürdigen Erlebnisse, seit er mich in der Nacht hatte warten lassen.
"Nicht wahr, der Löwe ist doch ein nettes Tier." meinte Johannes.
"Ja. Er hat mir regelmäßig von seinem Fleisch angeboten." antwortete ich.
"Hast du dieses Angebot angenommen?" fragte Johannes prüfend.
"Nein. Aber es war eine nette Geste."
"Das ist gut. Es war nämlich Menschenfleisch. Der Löwe lebt in der Arena." sagte Johannes. "Und wenn ich die Nerven verloren hätte, hätte er mich gefressen." wurde mir plötzlich klar.
"Selbstverständlich. Das ist seine Natur." antwortete Johannes.
Ich dachte immer noch in Liebe an den Löwen. Wenn ein Tier Unrecht tut, trägt immer ein Mensch die Verantwortung. Ein Tier ist zu Schuld nicht fähig, da es keine wahre Entscheidungsfreiheit hat. Es wird durch seine Instinkte zum Guten geleitet, wenn kein Mensch eingreift und es in die Irre führt.

Dann kamen die Echsen herein und fragten mich, ob ich nicht vielleicht doch noch ihre Fragen beantworten wolle. Sonst müßten sie den Johannes schlachten.
"Nein. Diese Fragen kann ich nicht beantworten." sagte ich und weinte.
Johannes verabschiedete sich lächelnd von mir und ging widerstandslos mit den Echsen fort. Ich war überzeugt, ihn zum letzten mal in meinem Leben gesehen zu haben.

Bald darauf kamen die Echsen wieder, fesselten meine Hände auf den Rücken und verbanden mir die Augen. Dann wurde ich wieder weit durchs Land geführt. Schließlich fesselten sie mir irgendwo die Füße zusammen und ließen mich so dort liegen. In dem Augenblick erschien vor meinem inneren Auge das lächelnde Gesicht des Johannes und er sagte mir streng, daß ich über meine Erlebnisse seit er mich in der Wüste hatte warten lassen auch mit dem Hochgeweihten Rat nicht reden dürfe. Ich versprach es ihm. Ich war immer noch überzeugt, daß er tot sei, denn sonst hätte er ja körperlich anwesend sein können.

 

 

Öffentliche Einweihungen

Dann hörte ich, wie sich mir Schritte näherten. Zwei Männer unterhielten sich:
"Der Johannes meinte, daß wir ihn um diese Zeit hier finden würden. Aber vielleicht hat er ja Angst vor seiner eigenen Courage bekommen und ist dennoch weggelaufen."

"Vielleicht ist auch nur etwas dazwischengekommen und er kommt etwas später. Laß uns ein wenig warten."

"Der Simon ist zu jung für eine erneute Einweihung. Schon die erste war viel zu früh."
"Außerdem ist er unzuverlässig. Das hat mir seine Frau erzählt."
"Die ist auch zu jung für ihre Aufgabe. Er meint wohl, nur weil er der Johannes ist, kann er mit uns machen, was er will. Dieser Idiot wird die Prüfung nicht bestehen. Und schon gar nicht drei Einweihungen innerhalb von einer Woche, wie Johannes es verlangt hat. Er meinte sogar, wir könnten so schnell machen wie wir wollten. Wie wärs, wenn wir die ganze Angelegenheit in drei Tagen erledigen. Dann kann kein Mensch mit allen zugehörigen Foltern auf einmal fertigwerden."
Die Männer lachten.

Ich hatte genug gehört. Was sie sonst noch sagen könnten, würde mir bei der Prüfung auch nicht helfen. Meiner Ansicht nach war es nicht möglich, in drei Tage genug Folter hineinzuquetschen, um damit meinen Willen zu brechen.
"Hallo?" rief ich.
Die Männer drehten sich zu Tode erschrocken um und kamen zu mir herüber. Als sie mich so gefesselt und mit verbundenen Augen am Boden liegen sahen, begannen sie laut zu lachen.
"Mir scheint, der Johannes will ihn auch loswerden. Er hat ihn gefesselt, damit er nicht im letzten Augenblick weglaufen kann. Hast du nicht Angst, Kleiner? Wir können dich jederzeit freilassen." fragte einer spöttisch.
"Nein. Wieso?" fragte ich zurück.

Es wurde schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie verwendeten die typische Essenerfolter mit Akupunkturnadeln, die weder das Nervensystem noch den Körper direkt schädigt, so daß sie keine Pausen machen mußten, da ich die Besinnung nicht verlor. Um die gesamten Prüfungen in drei Tage quetschen zu können, arbeiteten sie Tag und Nacht abwechselnd, so daß ich nicht zum Schlafen kam. Ich war am Ende so müde, daß es mir schwer fiel, einen klaren Kopf zu behalten und mir bewußt zu sein, was ich sagen durfte und was nicht. Schließlich ging ich auf Nummer Sicher und weigerte mich, überhaupt zu sprechen.

Am Ende ließen sie mich doch noch schlafen. Als ich wieder aufwachte, saß Johannes neben mir. Ich erkannte ihn und strahlte vor Freude.
"Denk daran. Du hast keinen Grund zu vermuten, daß ich tot sein könnte." mahnte er mich in der Gedankensprache.
Zu recht. Ich hätte ihn beinahe gefragt, ob er wirklich noch lebt.
"Waren das jetzt die Einweihungen?" fragte ich.
"Ja. Du hast sie mit Bravour bestanden."

Ich gab Johannes das Gespräch zwi- schen den beiden Männern wieder, die mich geprüft hatten und fragte ihn dann:
"Meinst du, es war wirklich eine gute Idee, daß du sie gezwungen hast, mich als Mitglied des Rates anzuerkennen? Sie wollten mich umbringen. Sie werden noch jahrelang versuchen, mir jeden denkbaren Knüppel zwischen die Beine zu werfen." fragte ich in der Gedankensprache.
"Simon, ich tue nicht, was für dich bequem ist. Ich tue, was notwendig ist, um dich auf deine Aufgabe in der Welt vorzubereiten. Sie werden dich innerhalb der nächsten zehn Jahre zähneknirschend akzeptieren. In dieser Zeit, lernst du, mit Knüppeln umzugehen und du lernst, wie Politik gemacht wird. Beides ist wichtig."
Ich sah Johannes fassungslos an. Diese harte, strenge Seite hatte ich an ihm noch nicht kennengelernt.
"Manchmal benimmst du dich wie Arid." kommentierte ich.
Johannes lachte:
"Der Vorschlag stammt auch von Arid. Komm. Es ist Zeit. Gleich beginnt die Sitzung des Hochgeweihten Rates, an der wir teilnehmen müssen."

 

 

Der Hochgeweihte Rat

Die Sitzung war einfach nur schrecklich.

Die anderen Mitglieder des Hochgeweihten Rates hackten die ganze Zeit auf mir herum, als bestände mein einziger Lebenszweck darin, ihnen als Opfer für ihre Gehässigkeiten zu dienen. Sie bezeichneten mich als hochnäsigen Weichling, der sich ein Amt anmaßt, das ihm nicht zusteht. Ich reagierte lange nicht darauf. Irgendwann verlor ich dann doch die Geduld und sagte:
"Ich weiß nicht, was ihr wollt. Vor einigen Tagen hat Johannes mich gefragt, ob ich bereit wäre, eine Einweihung zu machen. Ich habe ihm gesagt, daß er entscheiden soll, wann und wie ich eingeweiht werde. Ich würde mich da ganz auf sein Urteilsvermögen verlassen. Johannes hat entschieden, daß ich alle drei Einweihungen in einer Woche mache und euch die genaue Form überlassen. Wo ist da Hochmut? Und wer hat sich angemaßt, mir dieses Amt zu verleihen? Ihr habt in meiner Gegenwart besprochen, daß ihr mir die Prüfung so schwer machen wollt, daß kein Mensch sie bestehen kann. Ich habe sie dennoch bestanden. Was daran ist das Verhalten eines Weichlings?" fragte ich.
Sie wußten darauf keine Antwort, blieben aber bei ihrer Meinung.

Aber das war nicht das eigentliche Problem, das ich mit diesen Eingeweihten hatte. Sie waren einfach schrecklich unvernünftig, bekamen es nicht mit, wenn ich auf die Gedankensprache zurückgriff, um ihnen wichtige Einzelheiten mitzuteilen, die ich wegen des Herrn im Himmel nicht laut aussprechen durfte und blieben konsequent bei der naiven Überzeugung, daß die Engel nur unser Bestes wollten.

"Himmel, und das wollen Eingeweihte sein?" dachte ich Johannes zu.
"Nein. Das sind nur nach Willen des Herrn im Himmel die offiziellen Eingeweihten. Sie wären Löwenfutter. Und wir verfüttern keine Menschen. Du zählst zu den wahren Eingeweihten."
Ich starrte Johannes schweigend an. Seit der Nacht, in der mich die Römer entführt hatten, steigerte sich meine Verwirrung stetig.

Kurz darauf verließen wir den unterirdischen, geheimen Konferenzraum und gingen auf getrennten Wegen zu unseren jeweiligen Heimatdörfern.

 

 

Gefolterte Gefangene

Unterwegs wurde ich von Römern gefangengenommen, die mich zu einem Römer brachten, der durch Foltern den Verstand verloren hatte. Ich sollte ihn heilen. Zu diesem Zweck baute ich einen telepathischen Kontakt mit ihm auf. Seltsamerweise war der Mann in seinen Fieberträumen der Ansicht, in den Händen von Essenern zu sein, die ihn gefoltert hätten. Meines Wissens foltern Essener nur in den Einweihungen ihrer eigenen Leute und beim Unterricht in Geistiger Kampf. Noch merkwürdiger war, daß es sich bei der Folter nicht um eine Essenerfolter mit Akupunkturnadeln gehandelt hatte, sondern um die typische Folter der Engel mit eingepflanzten Sendern. Sorgfältig heilte ich das Energiefeld des Mannes und teilte ihm die Unstimmigkeiten mit, bat ihm aber, mit niemandem darüber zu reden, wie Engel foltern.

Bevor ich meine Arbeit ganz abgeschlossen hatte, hörte ich Kampfeslärm. Essener griffen die Römer an, besiegten sie und wollten meinen Patienten erstechen. Ich verbot ihnen das strengstens mit einem Hinweis auf die Gesetze unseres Volkes, die einen solchen Umgang mit Verletzten verboten.

Dann stürmten erneut Römer das Haus und erschlugen die Essener, mit denen ich diesen Streit gehabt hatte. Mich packten sie und wollten meinen Patienten ebenfalls erstechen. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß das ein Römer sei, den Essener gefoltert hätten, bis er den Verstand verlor. Ich wäre von Römern gefangengenommen worden, damit ich das heilen sollte. Daraufhin blieb mein Patient am Leben.

Zwei der Römer packten mich, verbanden mir die Augen und brachten mich und meinen Patienten weg.
Danach wurde ich von ihnen tagelang gefoltert und mein Patient mußte zusehen. Irgendwann sagten sie mir, daß sie mir die Augen ausstechen würden und taten etwas, das sich auch tatsächlich so anfühlte. Ich aber erkannte es wieder. Es war ein Trick, mit dem man durch das setzen von drei bestimmten Akupunkturnadeln dem Opfer den Eindruck vermitteln konnte, ihm würden die Augen ausgestochen. Da entspannte ich mich, denn von der Sekunde an war ich mir sicher, daß es nur eine Einweihung war. Schließlich führte mein Patient mich mehrere Stunden durch die Wüste. Bei dieser Wanderung ließ langsam die Wirkung der Folter nach und meine Augen begannen wieder, richtig zu arbeiten. Schließlich begegneten wir in einer einsam gelegenen Hütte Johannes. Die beiden begrüßten sich mit einem Lächeln und es war klar, daß sie sich sehr gut kannten. Johannes nahm telepatischen Kontakt mit uns auf und dachte:
"Na, Gerd, was hältst du von dem Arzt, den ich dir habe schicken lassen?"
"Irgendwie machte er selbst einen ziemlich verwirrten Eindruck, als er mich von dem Wahnsinn heilte, in den ich vor den Foltern der Engel geflohen bin."
"Haben dich deine Einweihungen etwa nicht verwirrt?" fragte Johannes lachend.
"Doch. Du hast meine Krankheit für eine Einweihung benutzt? Kann es sein, daß du irgendwie skrupellos bist, Johannes?" fragte der Römer scharf.
"Wieso? Hat es dir geschadet?" gab Johannes zurück.
"Nein. Welche Einweihung?" fragte der Mann.
"Die Königseinweihung."
"Bei so einem jungen Mann?"
"Ja."
"Ihn kann ich mir als König vorstellen." sagte der Römer und sah mich mit ganz neuer Hochachtung an.
"Seit wann zählen Römer zu unseren Eingeweihten?" fragte ich Johannes.
"Jede anständige Seele darf zum Eingeweihten ausgebildet werden, unabhängig von Volkszugehörigkeit und davon ob sie in einem menschlichen oder nichtmenschlichem Körper lebt." antwortete Johannes mit einem alten Grundsatz der Essener, den ich aber in dieser Form noch nicht angewendet gesehen hatte.
Ich fand das vernünftig. Doch mein Bild davon, was die Essener wirklich sind, war damit ins Wanken geraten.

 

 

Geheime Geschichte Karmels

"Es wird Zeit, daß ich dir die geheime Geschichte Karmels lehre" fuhr Johannes in der Gedankensprache fort:
"Du weißt, daß wir zur Zeit meiner Großeltern einen großen Krieg gegen die Römer verloren haben und daß nur Karmel nicht besiegt wurde. Hauptsächlich, weil seine Lage geheim war.

Zu der Zeit kamen die Engel mit ihrem Herrn, der uns als Gott vorgestellt wurde und boten uns Hilfe bei der Befreiung unseres Landes an. Wir glaubten, großes Glück gehabt zu haben. Und tatsächlich bauten sie uns viele geheime unterirdische Konferenzräume und Schlupfwinkel, von denen aus wir unsere Arbeit starten konnten. Bis zum Tod meines Großvaters schien alles gut."
Bis hier war es genau die Geschichte, die ich in Karmel als unsere Geschichte gelernt hatte, das Folgende jedoch hatte ich noch nie gehört.

"Dann jedoch versuchte uns der König im Himmel mit immer härteren Mitteln zu einem Krieg gegen die Römer zu drängen, den wir auch damals nie hätten gewinnen können. Schließlich starb mein Großvater in einem mysteriösen Unfall und sein Geist besuchte danach meinen Vater und sagte ihm, daß er von den Engeln zu Tode gefoltert worden sei. Daraufhin trat der Rat zusammen und kündigte den Vertrag mit den Engeln.

Noch ehe sie den geheimen Konferenzsaal verlassen hatten, in dem sie das beschlossen hatten, nahmen die Engel sie zusammen mit den drei zwölfjährigen Knaben gefangen, die sie dorthin begleitet hatten. Der gesamte Rat wurde abgesehen von meinem Vater zu Tode gefoltert. Mein Vater wurde entmannt und gefoltert, bis er halb tot war und dann in der Nähe Karmels ausgesetzt, damit die Essener seine Leiche finden sollten.

Die drei Knaben wurden ebenfalls entmannt und erhielten den Befehl, zu warten, bis mein Vater, der damalige Johannes tot sei und dann nach Karmel zu gehen und, die falsche Geschichte zu erzählen, die du von Arid gehört hast. In Wahrheit haben nämlich die Engel Arid kastriert. Arid war zu schwach, um meinen Vater zu tragen, ließ ihn deshalb in der Höhle zurück und holte sofort den Kräuterkundelehrer, einen Vertrauten meines Vaters zuhilfe, der ihm das Leben rettete, auch wenn seine heilerischen Fähigkeiten nicht reichten, um meinen Vater wirklich zu heilen.

Damals war ich drei. Mein Vater hat mir in der Gedankensprache immer wieder gesagt, daß ich mich an Arid halten solle, er wäre einer der ganz Treuen. Niemand anders hätte es gewagt, gegen den Befehl des Herrn im Himmel rechtzeitig Hilfe zu holen und auch die beiden anderen Jungen hätten solche Angst gehabt, daß sie einfach geflohen seien. Leider seien sie von einem Raumschiff der Engel mit Lichstrahlen erschossen worden, während sie noch in Sichtweite waren. Arid wurde zur Strafe für seinen Ungehorsam übel gefoltert.

In den folgenden Jahren wurden alle wahren Eingeweihten, die unser Volk hatte, von den Engeln ermordet und sie schoben den Römern jedesmal die Schuld dafür in die Schuhe. Und jeder, der es wagt, die Wahrheit zu sagen, wird ebenfalls ermordet. So kommt es, daß Karmel keine wahren Eingeweihten mehr als Lehrer hat.

Seither legt der König im Himmel fest, wer im Hochgeweihten Rat sitzt. Und unsere offiziellen Einweihungen sind andere, als die Wahren Einweihungen, die nur die wahrhaft Treuen erhalten." erzählte Johannes in der Gedankensprache.

Ich zitterte vor Grauen bei dieser Geschichte. Und ich verstand mein ganzes Leben besser.
"Eines verstehe ich nicht. Warum erzählst du mir diese Geschichte? Ich bin doch kein Essener." fragte der römische Soldat.
"Gerd. Wenn alle Römer wären wie du, könnten wir hier in Frieden leben. Du sollst wissen, was wirklich vorgeht, damit du im Ernstfall die richtigen Entscheidungen treffen kannst. Wenn ich es verhindern kann, wird der Krieg, den der König im Himmel plant, nicht stattfinden."
"Ihr alle beide denkt daran, daß diese Wahre Geschichte geheim ist und niemals laut ausgesprochen werden darf, wenn ihr unsere Pläne zur Rettung unseres Volkes nicht zunichte machen wollt." antwortete Johannes.

Wir gingen nach Hause und diesmal schaffte ich es auch, dort anzukommen.

 

 

Johannes Friedensplan

In den folgenden Wochen mußte ich die Listen der Eingeweihten meines Bereiches auswendig lernen. Es gab offizielle und inoffizielle Listen, wie es auch öffenliche und wahre Eingeweihte gab. Der eine Teil wurde in lauten Worten gelehrt, der andere in der Gedankensprache.

Ich hörte mir Johannes Bericht über diese Menschen an, wie er mir mit liebevollen und humorvollen Geschichten die Stärken und Schwächen der Menschen verdeutlichte, mit denen er sein Volk regieren mußte. Die Listen der Geheimen Eingeweihten waren die interessanteren. Sie zeigten, daß Johannes Beziehungen bis in die höchsten Positionen der römischen Eroberer reichten und ihm genug Macht in die Hand gaben, um dem einfachen Volk durch seinen Einfluß ein gutes Leben zu ermöglichen, obwohl es eine römische Besatzungsmacht gab.

Verhindert wurde das nur durch die Macht der Engel, die immer wieder durch Morde und Foltern, die sie dann einer von beiden Parteien in die Schuhe schoben, Johannes Friedensarbeit sabotierten oder zunichte machten. Doch selbst das weichte langsam auf, da der Johannes auch unter den Engeln echte Freunde fand, die er zu Eingeweihten ausbildete. Die einzige echte Gefahr bestand darin, daß die Engel es schaffen könnten - beispielsweise mit Hilfe des kommenden Königs-Jesus, den ihr Herr da ausgebildet hatte - tatsächlich den Krieg vom Zaun zu brechen, den sie für uns planten. Und es sah so aus, daß das vermutlich nicht zu verhindern war. Es sei denn, dieser Jesus stände auf unserer Seite. Und selbst dann standen die Chancen schlecht.

Die Zeit arbeitete für uns, doch es war unwahrscheinlich, daß wir genug Zeit schinden könnten, um Erfolg zu haben.

 

 

Arids Einweihungen

Die Liste der offiziellen Eingeweihten war auf andere Weise interessant. Jeder, der drei mal eine Einweihung fordert, muß sie von seinem Lehrer auch erhalten oder er wird bei dem Versuch, die Einweihung zu bestehen, sterben. In meinem Bereich gab es mehrere hundert Eingeweihte. Keiner von ihnen hatte drei mal eine Einweihung gefordert. Alle waren sie auf Vorschlag eines ihrer Lehrer eingeweiht worden. Und es war kein einziges mal vorgekommen, daß ein Schüler bei einer Einweihung gestorben war.

Bei einem Besuch in Karmel erzählte ich Jesus Arid von dieser Beobachtung. Er lächelte.
"Ich habe jede meiner Einweihungen drei mal gefordert und ich habe jede auf Anhieb bestanden. Bei der Geschichte, die über mich bekannt ist, wäre niemand bereit gewesen, mich für eine Einweihung vorzuschlagen. Ich fand aber, daß es mir zustand und es war nötig, damit ich die Aufgabe erfüllen konnte, die ich mir gewählt hatte."

 

 

Der Jesus ist da

"Simon, geh nach Karmel. Der Jesus ist da. Er ist heute dort angekommen." funkte mich Ramajan an.
Ich gehorchte. Unterwegs dachte ich darüber nach, was für ein Mensch mich dort wohl erwarten würde. Die meisten Angehörigen des hochgeweihten Rates waren durch das immense Faktenwissen des jungen Jesus beeindruckt gewesen, als er ihnen als zwölfjähriger Junge von seinem Vater, dem Herrn der Engel vorgestellt worden war. Nur der junge Nachfolger des damaligen Johannes, Johannes der Täufer, hatte einen sehr schlechten Eindruck von dem Jungen bekommen. Er meinte zu uns, daß der junge Jesus dem Wahnsinn nahegewesen wäre. Ich machte mir Sorgen, was aus diesem Jungen geworden sein mochte, denn wenn er nicht auf unserer Seite stände oder wenn er unzuverlässig wäre, wären wir verloren. In meinem Hinterkopf hatte ich aber immer noch das Bild des Kleinkindes, das er einmal gewesen war. Mein Freund Josef aus meiner Kleinkindzeit.

Nach zwei Tagen der Wanderung kam ich schließlich in Karmel an und fragte die Torwache, ob er wüßte, wo der Königs-Jesus sei.
"Nein. Es geht das Gerücht um, daß er bald kommen müßte, aber bisher haben wir noch nichts Konkretes gehört."
Ich nickte.
"Ist vor zwei Tagen ein neuer Schüler aufgenommen worden?" fragte ich.
"Zwei. Einer von ihnen ist ein wahrer Riese und hat einen Buckel. Die beiden hängen immer zusammen."
"Gut. Weißt du, wo ich sie finde?"
"Vermutlich noch in ihren Zimmern - du kennst doch die Gepflogenheiten!" lachte der Wächter und nannte mir die Zimmernummer.

Ich ging hin, schaute nach. Die Zimmer waren leer und beide weg. Also ging ich zu meinem alten Lehrer Arid und fragte ihn, ob er wüßte, wo die beiden seien.
"Ja. Beim Abendessen."
"Wie lange haben sie gebraucht, um das Zimmer zu verlassen?"
"Drei Stunden."
"Drei Stunden?" von so einer kurzen Zeit hatte ich noch nie gehört.
"Du weißt doch, daß ich immer neugierig bin und die Zimmer der neu aufgenommenen Schüler in Augenschein nehme. Als ich das erste mal dort vorbeiging, öffnete Josef, der Buckelige die Tür, sagte, er hätte meine Schritte gehört und fragte, ob er mir einige Fragen stellen dürfte. Er hat mir ganz zurückhaltend und höflich Löcher in den Bauch gefragt. Ohne eine Frage je direkt zu formulieren."
"Deine Schritte - die hat er nie durch eine verschlossene Tür gehört."
Arid geht nahezu unhörbar. Auch wenn die Tür offen ist, wird man seine Schritte auf einem Gang nicht hören.
"Das habe ich ihm auch gesagt und er fragte nur lächelnd: 'Meinst du? Na dann eben nicht.' und hat die dahinterstehende Frage ignoriert. Der Mann ist eine ausgebildeter Heiler. Ganz bestimmt. Er hat es nur nicht erwähnt. Er hat sich erkundigt, wer der Johannes sei. Vertrau ihm. Er steht auf unserer Seite."
"Und der andere?"
"Der ist wesentlich ungebildeter, offener, direkter und fröhlicher. Die beiden sind Freunde, enge Freunde. Sie tragen beide Schwerter und können auch damit umgehen. Gut. Sehr gut. Besonders der Buckelige ist ein überragender Schwertkämpfer."

Ich nickte, forderte Arid auf, mir zu folgen und ging in die Kantine. Unterwegs sagte ich Arid, daß er beiläufig zu den beiden hingehen und nebenher erwähnen solle, daß ich einer der fünf höchsten Eingeweihten des Ordens bin. Lachend und schwatzend saßen dort die Schüler Karmels zusammen. Das Essen war schon beendet. Arid ging durch die Reihen und wechselte mit drei Jungen ein paar Worte. Damit war eindeutig klar, wer seine Schüler waren. Die anderen weigerten sich schon lange vor meiner Zeit als Schüler Karmels, private Gespräche mit diesem unbeliebtesten Lehrer Karmels zu führen. Schließlich sprach er einen buckeligen Mann mit einem dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Begleiter an und wechselte auch mit ihnen drei, vier Worte. Das Wort Eingeweihter erwähnte er nicht einmal. Er deutete meinen Rang nur mit ein paar abfälligen Bemerkungen an. Dennoch wurde der Buckelige sofort wach, kam auf mich zu und fragte mich, ob er mit mir unter vier Augen sprechen könnte.
"Selbstverständlich. In deinem Zimmer." sagte ich.
Unterwegs ging ich in Arids Zimmer und nahm seinen Stuhl mit. Ich spürte daß Josef, der Buckelige das als einen ungerechtfertigten Übergriff auf Arids Privatspäre empfand. Er gab diesen Gedanken mir gegenüber aber nicht zu erkennen. Ich lächelte in mich hinein.
Der Jesus hatte ein sehr ausgeglichenes Energiefeld, die Aura war weitgehend klar und er wirkte auf eine zurückhaltende Weise selbstsicher.

Sobald wir alleine waren, sagte Josef:
"Ich bin der zukünftige Königs-Jesus."
"Ich weiß. Deshalb habe ich dich zu mir rufen lassen. Und glaub mir, Arid weiß es auch."
"Hast du es ihm etwa verraten?" fragte er empört.
"Nein. Vor Arid kann man nichts geheim halten. Er ist zu klug. Arid wählt seine Schüler. Er hat dich schon angenommen."
"Wie bitte? Ich habe das Recht mir meine Lehrer selbst zu wählen."
"Das hast du. Würdest du einen Anderen wählen, nachdem du ihn kennen gelernt hast?"
Josef sah mich fassungslos an und schwieg minutenlang, dann sagte er:
"Er ist der unbeliebteste Lehrer Karmels."
"Er wählt sich seine Schüler. Alle anderen stößt er so lange vor den Kopf, bis sie nicht mehr mit ihm reden."
Jesus lachte. Er hatte das frostige Schweigen im Speisesaal immer noch lebhaft vor Augen, dann fuhr er mit seinen Argumenten gegen Arid fort:
"Er redet nur in Andeutungen. Er hat mich bis ins Kleinste ausgefragt, ohne je eine Frage direkt zu formulieren. Und er gibt nichts über sich preis."
"Oh. Da haben sich zwei gefunden." dachte ich mir und sagte schmunzelnd: "Genau das hat er mir über dich erzählt. Ich würde diesen Lehrer wählen. Die anderen sind dir nicht gewachsen. Was hast du in deiner Heilerausbildung alles gelernt?"
Jesus stutzte und fragte dann:
"Wer hat dir das gesagt?"
"Arid."
"Ich habe es IHM aber nicht gesagt."
"Er hat es verstanden."
"Du vertraust Arid?" fragte Josef mich.
"Völlig. Aber er ist ein schrecklicher Mensch. Er hält mir heute noch Moralpredigten, wenn ich Fehler mache." antwortete ich lächelnd.
Der zukünftige Jesus lachte. Langsam freundete er sich mit dem Gedanken an, daß Arid der richtige Lehrer für ihn sein könnte.

"Warum hast du, ohne zu fragen, Arids Stuhl genommen?"
"Das machen wir immer so. Er weiß, welches Zimmer mir zugewiesen ist und bringt dann meinen Stuhl mit, wenn wir uns heute Abend unterhalten. Ich werde ihn noch bei einigen Dingen um Rat fragen. Er ist ein weiser Mann. Selbst der Johannes fragt ihn immer noch um Rat."
"Ich will wie jeder andere Schüler behandelt werden. Ist es möglich, geheim zuhalten, wer ich bin?"
"Johannes und Maria solltest du kennenlernen. Sie sind wichtig. Bei den restlichen Mitgliedern des Hochgeweihten Rates genügt es, wenn sie es erfahren, wenn dein Vater geruht, es ihnen mitzuteilen. Sie sind unter deinem Niveau." antwortete ich.
Jesus traute seinen Ohren nicht.

"Beherrscht du die Gedankensprache?" dachte ich ihm zu.
"Wie?" fragte er laut zurück.
"Idiot." kommentierte ich diese Antwort.
Er besann sich und wechselte in die Gedankensprache:
"Ja."
"Dann werden wir uns über Engel und den König im Himmel nur in Gedankensprache unterhalten. Du mußt bedenken: die Engel wissen, daß sie mit Folter meinen Willen gebrochen haben und das so gründlich, daß ich nicht einmal etwas Schlechtes über sie zu denken wage, geschweige denn, daß ich schlecht über sie reden würde." erklärte ich und lachte ihn an.
"Er hat deinen Willen gebrochen?"
"Er hat mich monatelang gefoltert. Er ist fälschlicherweise der Ansicht, daß das kein Mensch durchstehen kann, ohne nachher einen gebrochenen Willen zu haben. Da er nichts von mir verlangt hat, das ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, ist ihm noch nicht bewußt geworden, daß er sich da geirrt hat. Ich verschwende meine Kräfte nicht darauf, mich über das schlechte Benehmen von Idioten aufzuregen."

"Warum bist du offen zu mir? Ich bin ich der Sohn des Königs im Himmel."
"Und? Wirst du mein Geheimnis verraten?" fragte ich herausfordernd zurück.
"Nein. Mein Vater ist ein Verbrecher." antwortete er traurig.
Was immer auch geschehen sein mochte, um den Mann zu dieser Ansicht zu bringen: Er liebte seinen Vater und war traurig darum. Ein gutes Zeichen.
"Siehst du. Auf Arids Einschätzung kann man sich verlassen."
Ich war angetan von unserem zukünftigen Königs-Jesus. Wirklich. Ich hoffte nur, daß sein Vater nicht allzu schnell begriff, daß wir uns einig waren, seine Pläne zu sabotieren.

Wir gingen also in das Zimmer, das auf mich wartete. Johannes, Arid und Jesu Freund warteten dort schon auf uns. Es war also eng.

"Und?" fragte Johannes.
Ich machte nur lachend einen Luftsprung. Jesus sah mich schief von der Seite an:
"Du benimmst dich wie ein Kind."
"Und? Hast du etwas gegen Kinder?" fragte ich zurück.
"Nein."
"Ich auch nicht."
Jesus dachte darüber nach und eine weiches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

"Dein Freund Thomas ist aber wesentlich gesprächiger als du." meinte Arid zu Jesus.
"Wie, hast du ihnen etwa alles erzählt?" fragte Jesus Thomas empört.
Ich lachte und setzte mich zu meinen Freunden. Jesus starrte Johannes fassungslos an.
"Was machst du hier?" fragte er.
"Ich bin der Johannes." antwortete Johannes.
"Aber du hast mir davon doch gar nichts gesagt. Ich habe gedacht, du wärest ein einfacher Essenerheiler, nicht der höchste Eingeweihte des Ordens!"
"Und? Hast du mir verraten, daß du der zukünftige Königs-Jesus bist?" fragte Johannes lachend zurück.
"Nein." antwortete Jesus.
"Siehst du. Du paßt zu uns." kommentierte Johannes, und fuhr zu mir gewandt fort: "Ein halbes Jahr."

Jesu verblüffter Gesichtsausdruck reizte uns alle zum Lachen. Er wurde deshalb wütend und seine Hand fuhr zum Schwert. Ich sah ihn an und fragte streng:
"Muß ich dazu noch etwas sagen?"
In dem Augenblick war er den Tränen nahe:
"Ihr sollt mich nicht auslachen!" protestierte er.
"Josef, wir lachen zwar manchmal über eine Geste oder ein Wort, das auf den ersten Blick lustig erscheint, aber dir will niemand hier etwas Böses. Wenn du dein Schwert ziehst, hat niemand hier im Raum eine Chance gegen dich. Wenn du hier Leichen sehen willst, dann schlag zu. Ansonsten solltest du etwas Selbstbeherrschung lernen. Wir werden dich jedenfalls nicht mit dummen Scherzen verschonen, nur weil du uns mit dem Schwert bedrohst."
Jesus steckte das Schwert verlegen wieder weg. Ich lächelte.
"Es war nicht so gemeint." meinte er.
"Doch. Du warst wütend. Und wenn du wütend bist, denkst du sofort an dein Schwert. Das ist ein Fehler. Die Menschen, auf die man am häufigsten wütend wird, sind die, die einem am nächsten stehen. Und die will man unter keinen Umständen verletzen. Gegen Feinde kämpft man nicht, weil man wütend auf sie ist, sondern, weil es um das eigene Leben geht." erwiderte ich streng.
"Das hat mir noch niemand gesagt." sagte er.
"Dann wurde es aber Zeit, daß es dir jemand sagt." antwortete ich.

Wir unterhielten uns danach nur über Nichtigkeiten, bis Johannes mit dem Jesus und seinem Freund demonstrativ das Zimmer verließ. Kaum waren wir alleine, dachte ich Arid zu:
"Du hast ein halbes Jahr Zeit, um den Jesus so auszubilden, daß er die echten Einweihungen sicher besteht. Dann will ich mich ihm widmen."
"So wenig?" fragte Arid zurück.
"Ja. Johannes ist derselben Meinung. Der Jesus wird zurechtkommen und wir werden die verbleibende Zeit nötig haben, um ihn die Geheime Geschichte Karmels vollständig zu lehren. Der Mann ist gut ausgebildet. Er ist es nur nicht gewöhnt, daß andere ihm innerlich gewachsen sind."
"Du kennst ihn übrigens. Er lebte in eurem Dorf. Er wurde damals Josef genannt." sagte Arid zu mir.
"Ich weiß." antwortete ich "Damals war er aber gesund."
"Ich weiß nicht, wieso wir ihn heute noch unbedingt zum Königs-Jesus machen wollt. Bei dem stimmt doch etwas nicht." sagte Maria leise.
"Der Josef, der mein Freund war, hatte keinen Buckel. Er war ein fröhlicher Junge gewesen, der durch sein inneres Licht geradezu überstrahlt wurde. Warum hat Josef einen Buckel. Was ist geschehen, seit er ein kleines Kinder war?" fragte ich Arid.
"Das weiß keiner. Er redet nicht über seine Kindheit. Doch jedes Wort, was er über seinen Vater, den Herrn im Himmel sagt, ist bitter." antwortete Arid.
"Hat ihm niemand gesagt, daß er verzeihen muß, wenn er frei sein will?" fragte Maria.
"Doch. Seine Anwort ist: 'Ich weiß.' Mit Tränen in den Augen." sagte Arid.

Ein halbes Jahr lang war also Arid für die Ausbildung des Jesus zuständig. Johannes und ich verließen uns hundertprozentig darauf, daß er seine Sache gut machen würde. Zuerst klangen seine Berichte geradezu euphorisch. Doch nach drei Monaten rief Arid mich nach Karmel, es sei dringend.

 

 

Der Mord

Als ich dort ankam, schickte mich die Torwache sofort zu Arid. Ich würde schon bitter vermißt. Also ging ich hin und fragte:
"Was ist denn so dringend, daß du es nicht schon längst selbst erledigt hast?"
"Der Jesus..."
"Du meinst den Königs-Jesus?"
"Ja. Er hat in einem Wutanfall einen Jungen erschlagen. Und sein Vater besteht darauf, daß er dennoch König wird."
"Dann muß er König werden. Oder du vergiftest ihn."
"Vergiften?"
"Dann ist er tot und jemand von uns wird als Schuldiger vom König im Himmel hingerichtet. Wo ist er?"
"In seinem Zimmer. Angekettet."
"Und? Wie nimmt er das auf?"
"Sehr ruhig. Traurig. Er gibt zu, daß er es verdient hat."
"Darin liegt keine Lösung."
"Nein."
"Ich will mit ihm reden. Es gibt da etwas, über das ich mir schon länger Gedanken gemacht habe. Sein Buckel. Schließ mich bei ihm ein."
"Maria ist bei ihm. Das Mädchen, das mit dir bei dem alten Johannes gelernt hat."

Als ich das Zimmer betrat, war sie aber schon weg. Ich ließ mich einschließen. Dann fragte ich:
"Was meinst du, auf welche Erfahrungen es zurückgeht, daß du einen Buckel hast?"
Jesus zuckte nur traurig die Schultern. Seine Aura wurde dunkel an Rücken und den Seiten des Kopfes.
"Du vermutest die Ursache an der richtigen Stelle. Das sehe ich an deiner Aura." stellte ich fest.
Ich wartete auf eine weitergehende Erklärung, doch Jesus schwieg.
"Jesus?" fragte ich sanft.
"Was geht dich mein Buckel an?" fragte er zornig und traurig zugleich.
"Wir sind in einer Zwangslage. Einen so gewalttätigen Menschen, wie du es im Augenblick bist, können wir unser Volk nicht anvertrauen. Dein Vater besteht aber darauf und wird jeden umbringen, der das zu verhindern sucht." erklärte ich in der Gedankensprache.

"Was könntet ihr sonst machen?"
"Dich vergiften." erklärte ich.
Er sah mich zuerst schockiert an, dann zog er seine Energie in sich zurück, dachte nach und nickte friedlich.
"Er wird euch zur Strafe ermorden lassen." gab er zu bedenken.
"So ist es. Aber dann hat er keinen König, den er mißbrauchen kann, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Du hast dich selbst nicht genug unter Kontrolle, um deinen eigenen Grundsätzen treu sein zu können und diesen Krieg verhindern zu können." erklärte ich.

"Ich könnte Selbstmord begehen. Dann hättet ihr dieses Problem nicht. Ich hätte den Tod verdient." sagte er mit gesenktem Kopf.
"Das ist keine Lösung. Uns hilft nur, wenn du die Gründe für deinen Jähzorn herausfinden und beseitigen würdest. Deshalb bohre ich nach der Ursache für deinen Buckel."
"Ich kann mich wirklich nicht beherrschen." sagte er - und dahinter stand Bitterkeit, Scham und Verzweiflung.
"Du kannst es lernen." sagte ich zuversichtlich.
"Ich habe es versucht, immer wieder."
"Dann bete um Hilfe."
"Du weißt doch was Götter sind. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es einen echten Gott gibt, nicht nur Menschen, die in Raumschiffen herumfliegen und sich als Götter ausgeben, wie mein Vater, der wahrhaftig kein netter Mensch ist."
Beim Wort Vater tauchten die dunklen Stellen in Jesu Aura wieder auf.
"Das Problem liegt bei deinem Vater." stellte ich fest.
"Ich weiß." Jesus wirkte zutiefst bedrückt, "Jedesmal, wenn ich daran denke, nehme ich mir vor, beim nächsten Mal anders zu reagieren. Meinen Vater so zu lieben wie er nun einmal ist. Und jedesmal bin ich wieder einfach nur wütend, traurig und verzweifelt, sobald ich ihn sehe. Ich weiß, daß das mein Problem ist. Aber ich weiß keine Lösung. Er läßt mir ja auch keine Ruhe, keine Freiheit. Und versucht mich zu zwingen, daß ich gegen mein Gewissen handle."
"Jesus, ich bin genauso wenig fehlerlos wie du." sagte ich sanft.
"Nur - ich glaube wenn es mir gelänge, ihn zu lieben, würde er sich auch ändern. Ich fürchte, ich schaffe mir meine Probleme selbst."
"Bestimmt. Nur müssen wir alle damit leben, daß wir nicht unfehlbar sind. Ich habe auch Probleme - vor allem mit drei der vier gleich- oder höherrangigen Essenern, die es gibt - die ganz bestimmt vermeidbar wären, wenn ich ein absolut perfekter Mensch wäre." entgegnete ich und lächelte.

"Aber du kannst mit deinen Problemen leben." meinte er.
"Du doch auch - oder bist du etwa tot?" fragte ich scharf. "Bald. Wenn ihr mich vergiftet. Ich hätte es verdient." und er sah mich an, mit einem Blick der so offen und so voller Schmerz war, daß ich es kaum ertragen konnte.
"Deine Verdienste bringen uns gar nichts." kommentierte ich bissig.
Lautlos begannen Tränen über sein Gesicht zu rinnen und immer noch sah er mir in die Augen. Er sah mich an, ein Blick voller Schmerz und Liebe.
"Ach Josef. Ich liebe dich so sehr, daß es beinahe wehtut." sagte ich und ergriff seine Hand.
Er schlug die Hände vors Gesicht und begann haltlos zu schluchzen. So war es schon besser. Ich nahm ihn in die Arme und tröstete ihn. Als er sich einigermaßen wieder gefangen hatte dachte ich ihm zu:
"Es tut mir leid, daß ich dir nicht mehr Zeit lassen kann. Aber es ist zu wichtig. Wir werden dich so lange immer wieder auf das Thema zurückbringen, bis du die Grundlagen deiner Probleme erkannt und beseitigt hast. Wir zwingen dich so schnell da durch, wie das möglich ist. Und ich bitte dich: Tu dein Bestes, um mitzuarbeiten. Das Leben zu vieler Menschen hängt davon ab, daß du dich unter Kontrolle hast."
Er spürte mein Mitgefühl und meine unausgesprochen Bitte um Verzeihung. Sein Geist blieb für mich offen, als er meine Bitte überdachte. Er war der festen Überzeugung, daß unsere Mühe ebenso vergeblich sein würde, wie seine eigenen Versuche, sein Problem in den Griff zu bekommen. Andererseits - absolut sicher, daß es nichts gebracht hätte, konnte er nur sein, wenn er es ausprobierte. Ja. Er würde es versuchen und sein Bestes tun, damit wir Erfolg hätten. Doch es wäre vermutlich nur eine endlose sinnlose Quälerei. Fragend sah er mich an.
"Erzähl mir von dem Mord." wies ich ihn an.
Vor seinem inneren Auge erschien das Bild es toten Jungen. Er kniete neben der Leiche, innerlich von Schmerz erfüllt und dachte:
"Das hat er nicht verdient. Das hat er einfach nicht verdient." seine Seele war von Fassungslosigkeit und Schmerz über den Tod des Jungen erfüllt, an dem er nichts mehr ändern konnte.

Ich fragt mich unwillkürlich ob es möglich war, daß jemand der so empfand, wirklich der Mörder sein konnte. Jesus hob den Blick, sah mich ernst an und dachte entschieden:
"Es stimmt."
"Aber warum?" fragte ich.
"Ich kann mich nicht erinnern."
"Dann geh zurück zu dem, was direkt vor dem Mord geschehen ist."

"Du hast alle schlechten Eigenarten deines Vaters, wie man an deinem Buckel erkennen kann." hörte ich eine Stimme in Jesu Geist sagen Wut brandete auf, dann wurde es schwarz vor seinen Augen - und plötzlich stand er wieder vor der Leiche und wußte, daß er den Jungen ermordet hatte, der das gesagt hatte.

Ich ließ ihn bis zu dem Punkt erzählen, als er von den Kriegern des Ordens abgeführt wurde und schickte ihn dann wieder zum Anfang der Geschichte zurück.

Ich ließ ihn den ganzen Ablauf sieben mal erzählen, erst dann kamen die Erinnerungen aus der Zeit des Blackouts hervor:
"Du hast alle schlechten Eigenarten deines Vaters, wie man an deinem Buckel erkennen kann." hörte ich eine Stimme in Jesu Geist sagen Wut brandete auf, urgewaltig, wie ein Orkan schwemmte sie alles fort, was vorher an Gedanken und Gefühlen da gewesen war. Jesus stand auf, zog sein Schwert und schlug dem Jungen, der das gesagt hatte, den Kopf ab. Sein eigentliches Ich sah unbeteiligt voller Entsetzen zu und versuchte verzweifelt wieder die Kontrolle über den eigenen Körper zurückzuerlangen. Doch das gelang ihm erst, als der Junge tot war.

 

 

Er hat sie umgebracht

"Diese Wut gehört nicht hierher. In Wahrheit gehört sie zu einer ganz anderen Zeit und an einen ganz anderen Ort. Was hast du Deinem Vater noch nicht verziehen?"
"Mein Vater hat mit mir zusammen meine Mutter besucht."
"Und?"
"Er hat sie umgebracht."
"Ich glaube nicht, daß sie tot ist. Sie hätte mich besucht. Erzähl mir genau, was geschehen ist." widersprach ich.
"Das war nicht wörtlich gemeint. Warum hätte sie dich besuchen sollen?"
"Ich war in den letzten Jahren fast der einzige, mit dem sie geredet hat."
"Sie ist eine verbitterte alte Frau, die alle haßt."
"Nein, Jesus. Sie ist traurig, denn sie sieht, in welcher Gefahr unser Volk schwebt. Und es tut ihr weh, zu sehen, daß niemand auf ihre Warnungen hört. Sie trägt Trauer und Liebe in sich, keine Verbitterung." sagte ich sanft in der Gedankensprache.
"Aber sie hat doch noch nicht einmal mit mir geredet!"
"In der Gegenwart deines Vaters? Darüber, daß er ein Verbrecher ist? Für wie dumm hältst du sie?" wechselte ich in die Gedankensprache.
"Sie hat eine Narbe quer durchs Gesicht und er hat ihr angedroht, sie noch mehr zu verstümmeln. Nicht einmal darauf hat sie reagiert."
"Darauf hätte ich auch nicht reagiert. Dazu gibt es nichts zu sagen. Der Mann ist gewalttätig. Man muß ihm nicht noch Zündstoff für seine bösen Neigungen liefern. Sie ist eine Eingeweihte, Jesus. Eine hohe Eingeweihte. Sie zeigt Gefühle nur, wenn sie das will. Hat sie dir zugelächelt?"
"Ja."
"Wie hat das gewirkt?"
"Es war ein verschmitztes tiefes Lächeln, wie zwischen Verschwörern, aber als wäre da eine tiefe Freude dahinter. Ich wäre am Liebsten zu ihr hingegangen und hätte ihr all den Ärger der letzten Jahre erzählt."
"Dem Gefühl solltest du trauen. Genau das habe ich immer mit ihr gemacht und sie wußte immer die richtigen Worte für mich. Sie ist eine sehr liebevolle, weise aber auch sehr stille Frau. Halte sie nicht für schwach, weil ihre Stärke in ihrer Tiefe ruht."
Jesus begann still zu weinen. Mir war nicht so ganz klar warum.
"Ist es jetzt für dich gut?" fragte ich.
"Ja. Ich hatte solche Angst um meine Mutter."
"Deine Mutter ist die höchste wahre Eingeweihte in unserem Orden."
"Im Ernst?"
"Ja."

"Geh noch einmal zu dem letzten Ereignis vor dem Mord und erzähl mir die ganze Geschichte." befahl ich. Er tat es. Die alles verzehrende Wut war immer noch da.
"Die Wut gehört nicht hierher. Geh zu dem Ereignis, aus dem sie stammt und erzähle mir, was du fühlst." befahl ich.

Ich wurde dadurch unterbrochen, daß ich über den Sender in meinem Kopf eine unbekannte Stimme hörte:
"Simon, Jesus, geht zur Gefängniswache, hole dort das Schwert des Jesus und komm dann in dem Funkraum."
"Das ist mein Vater." dachte Jesus mir zu.
Ich wurde schlagartig wütend: mußte sich dieser Kerl denn in alles einmischen? Und verdammt noch mal, Jesus war einfach zu unausgeglichen, als daß er ein Schwert in die Hand nehmen dürfte. Besonders dann nicht, wenn ich gerade dabei war, nach der Ursache dieser Unausgeglichenheit zu bohren. Von Jesus spürte ich niedergeschlagene Zustimmung zu meinem Standpunkt. Dann bekam ich mühsam meine Gefühle wieder unter Kontrolle, rief in der Gedankensprache Arid, damit er uns hinausließ und erstattete ihm Bericht über das Vorgefallene.
"Dann müssen wir wohl einen Grund finden, warum Jesus dringend zur weiteren Ausbildung Karmel verlassen und in die Wüste gehen muß." der trockene Humor von Arid war mir Balsam auf der Seele.
Auch von Jesus spürte ich Erleichterung wegen dieser Idee. Er traute sich selbst nicht und wollte möglichst weit von Menschen weg sein, denen er eventuell schaden könnte.

Auf dem Weg zum Funkraum umgingen wir die belebteren Bezirke der Burg.

"... Und es ist vollständig inakzeptabel, daß mein Sohn nur wegen eines wertlosen Sklavenjungen eingesperrt wird. Er ist schließlich der kommende König." schloß der König der Engel seine Rede.
Ich lag von den Foltern zur Strafe, daß Jesus eingesperrt worden war, immer noch zitternd am Boden. Und das war auch gut so, denn bei diesen Worten wäre ich ihm an die Kehle gegangen, wenn ich es gekonnt hätte. Ein Schüler Karmels mochte zwar auf einem Sklavenmarkt gekauft worden sein - aber davon war er noch lange kein Sklave und erst Recht nicht wertlos. Im Gegenteil wurde bei uns nichts so hoch geschätzt wie diese Kinder, die die Zukunft Karmels waren. Und ein Mann, der sich an einem dieser Kinder vergriffen hatte, war für den Rest seines Lebens für jeden höheren Posten untragbar.
Diesmal war es Jesus, der mit seiner Antwort Besonnenheit bewies:
"Vater. Ihr habt euch all die Jahre bemüht, eurer Herrschaft über die Essener den Anschein der Rechtmäßigkeit zu geben. Und - wenn dieser Anschein gewahrt bleiben soll, dann muß irgendetwas geschehen, was zumindest wie eine Buße aussieht. Ein Teil der zur Einweihung gehörigen Riten sind nahezu identisch mit bestimmten Bußübungen. Dazu muß man in die Wüste gehen. Wenn wir die vorziehen, reicht das vielleicht, um den Eindruck der Rechtmäßigkeit zu wahren."
Zu meinem Erstaunen stimmte der Mann zu und befahl Jesus, mich aus dem Funkraum zu schaffen.

Vor der Tür wartete Arid, nickte Jesus zu und begleitete uns durch die Burg. Diejenigen, die uns begegneten, sahen zuerst ärgerlich auf Jesus, weil er frei herumlief, dann sahen sie Arid an und kamen zu dem Ergebnis, daß es vermutlich doch in Ordnung sei. Es war bekannt, daß Jesus keine Gegenwehr geleistet hatte, als er gefangengenommen wurde, deshalb erschien es ihnen denkbar, daß jemand, der so hoch stand wie Arid oder ich, sich entschlossen hatte, sich statt auf Wachen auf Jesu Ehrenwort zu verlassen, wenn er ihn irgendwohin führte.

Daß ich manchmal rätselhafte Anfälle hatte, war allgemein bekannt. So wunderte es niemanden, daß Jesus mich trug. Niemand wußte, daß diese "Anfälle" in Wirklichkeit auf Foltern zurückzuführen waren. Deshalb waren die meisten Essener der Ansicht, daß ich meinen hohen Rang zu unrecht bekleidete und daß diese Anfälle ein Zeichen für eine verborgene innere Charakterschwäche seien.

"Deine Antwort war klug." dachte Arid, der die ganze Situation durch eine telepatische Verbindung zu mir miterlebt hatte, Jesus zu.
"Ich hätte lieber Simon um Rat gefragt. Aber der war so wütend, daß das nicht ging." antwortete Jesus.
Arid warf mir einen amüsierten Blick zu.
"So so, diesmal hast du also die Beherrschung verloren."
"Ja." antwortete ich.
"Ich frage mich, wie es möglich ist, daß jemand, den dieser Mann zur Erziehung in den Fingern gehabt hat, so grundanständig sein kann, wie es Jesus ist." meinte Arid nachdenklich.
"Ich anständig?" Jesus sah Arid verwirrt an.
"Von deinen Grundeinstellungen her bist du anständig. Dein Problem ist, daß du dermaßen übel behandelt worden bist, daß du es innerlich bis heute nicht vollständig verkraftet hast." erklärte Arid "Versteh mich nicht falsch. Ich halte dich als König für absolut ungeeignet. Du solltest normalerweise weit abseits vom Geschehen eine ruhige Arbeit haben, damit deine seelischen Wunden heilen können. Als König bist du eine wandelnde Zeitbombe. Und das schlimmste ist: Wir haben nicht die Macht, zu verhindern, daß du König wirst."
Jesus nickte zustimmend. Er sah an der Königswürde nur die Verantwortung, nicht den Glanz. "Wenn er sich selbst unter Kontrolle hätte, wäre er ein guter König." dachte ich.
Jesus sah mich erstaunt an.
"Dann muß er es lernen. Denn vor der Königswürde können wir ihn nicht bewahren." ergänzte Arid und sah mich an.
"Ich werde mein Bestes tun." versprach ich - und bezweifelte, daß das reichen würde.

 

 

Ich habe es ihm nicht verziehen

Es folgten Tage, in denen Johannes die Befehle des Königs im Himmel gegen den nur zu begründeten Widerstand der anderen durchsetzte. Johannes machte sich damit unbeliebt, denn er konnte ihnen ja nicht die Wahrheit sagen: Daß wir erpreßt wurden. Und daß jede andere Möglichkeit noch schlimmer sein würde.

Währendessen saß ich mit Jesus in seinem Zimmer und bohrte nach der Ursache für seinen unbeherrschbaren Zorn, bis wir schließlich bei folgender Geschichte endeten:
"Meine erste Begegnung mit meinem Vater hast du miterlebt, Simon. Er ist damals mit seinem Raumschiff am Rande der Felder unseres Dorfes gelandet, wo ich zusammen mit meiner Freundin Maria und Simon spielte. Ich war damals gerade vier, Maria drei und du Simon ebenfalls drei. Wir alle hatten noch nie ein Raumschiff gesehen und ich kannte meinen Vater nicht. Also kamen zwei für mich wildfremde Menschen auf mich zu, hoben mich trotz meines Protestes hoch und trugen mich in das Schiff meines Vaters. Ich hatte Todesangst, weil ich nicht wußte, was sie mit mir vorhatten - und entsprechend wehrte ich mich auch, bekam Schläge dafür und gab schließlich den Kampf auf, weil ich hoffnungslos unterlegen war. Sie legten mich auf ein großes hartes, weißes Bett ohne Decke und legten einen Hebel um. Ich verlor die Besinnung und dachte ich würde sterben.
Als ich wieder zu mir kam, saß meine Mutter neben dem Bett. Ich sah, daß sie geweint hatte.
"Haben sie dich auch totgemacht?" fragte ich. "Nein. Sie haben mich nicht getötet und sie haben dich auch nicht getötet. Du hattest nur Angst, daß sie das tun wollten. In Wirklichkeit haben sie dich nur ein wenig schlafen lassen, damit sie in Ruhe nachschauen konnten, ob du auch ganz gesund bist, Josef." antwortete meine Mutter.
"Aber warum hast du geweint?" fragte ich.
"Ich war so wütend, daß sie dich geholt haben, ohne vorher mich zu rufen. Dann hätte ich dir erklären können, daß es nicht so schlimm ist, wie du dachtest. Deshalb habe ich mit ihnen geschimpft und sie haben mich für das Schimpfen bestraft. Aber ich habe weitergeschimpft, bis sie es eingesehen haben." ein stolzes Lächeln erhellte ihr Gesicht, "Weißt du, so etwas tut weh. Aber ich kann damit umgehen."
Ich habe es meinem Vater nicht verziehen.

Die weiteren Begegnungen waren nicht so schlimm. Sie waren unangenehm. Aber ich hatte nicht solche Angst. Ich wußte ja, daß es nur Untersuchungen waren.

Bald darauf wurde mir gesagt, daß ich das Dorf verlassen müsse, um in der Ferne ausgebildet zu werden. Meine Mutter, so wurde mir gesagt, dürfe mich nicht begleiten. Ich floh in die Felder, um mich auszuheulen. Da fand ich Simon, der auch weinte. Ich bekam Mitleid und fragte ihn warum.
"Ich muß nach Karmel zur Ausbildung." sagte er.
"Ich muß auch weit weg zur Ausbildung." sagte ich.
Da hat Simon sich zusammengerissen und mich getröstet.
Am Ende hat meine Mutter sich ein zweites mal gegen die Engel durchgesetzt und mich zu der ersten Stelle, wo ich lernen sollte, begleitet.

Meine Lehrer waren zwei junge Männer. Ein Schwertkampflehrer und einer, der mir lesen, schreiben, rechnen und die Grundzüge unserer Geschichte beibringen sollte. Zuerst habe ich sie gehaßt, weil sie von mir verlangten, daß ich den ganzen Tag lernen sollte - zuerst lesen und so, wenn ich nicht mehr stillsitzen konnte, kämpfen und wenn das ich nicht mehr kämpfen konnte, wieder lesen.

Ich habe erst im Nachhinein erfahren, wie sehr mein Vater sie unter Druck gesetzt hat. Durch Morddrohungen und Folter. Ich hatte Glück, daß sie das damals nicht an mir ausgelassen haben.

Doch mit der Zeit lernte ich sie lieben, weil sie zwischendurch immer so schöne Geschichten erzählten und Witze machten, damit ich wieder lachte.

Als mein Vater schließlich meinte, es sei Zeit, daß ich etwas anderes lerne, begann ich zu weinen. Ich wurde für dieses Weinen mit Folter bestraft, bis ich die Besinnung verlor."

"Wie alt warst du damals?" fragte ich.
"Sechs.

Danach habe ich aufgegeben. Ich glaubte nicht daran, daß es meinem Vater etwas bedeuten könnte, ob es mir schlecht oder gut ging. Und ohne seine Liebe hatte ich keine Chance, etwas bei ihm zu erreichen. Doch meine Mutter hat mit ihm geredet - erst um mich selbst begleiten zu können und, als sie damit nicht durchkam, damit wenigstens einer meiner Lehrer mich begleitete.

Schließlich saß mein Schwertkampflehrer mit im Raumschiff, das mich fortbringen sollte. Ich saß schweigsam am Boden und wartete, was da kommen sollte. In Gegenwart meines Vaters, so hatte ich beschlossen, wollte ich nie wieder weinen.

Der Lehrer fragte, wohin ich kommen solle. Mein Vater sagte es ihm. Daraufhin bekam mein Lehrer einen Wutanfall. Er schimpfte mit meinem Vater, sagte ihm, daß das nichts für ein so kleines Kind sei und versuchte verzweifelt, ihn umzustimmen.
"Die bringen ihn doch um." sagte er.
Mein Vater zog eine Lähmpistole und schoß auf ihn. Als er dadurch wehrlos war, öffnete er die Bodenluke und warf ihn dort hinaus. Zuerst traute ich meinen Augen nicht. Er hatte ihn aus mehreren hundert Metern Höhe zu Boden fallen lassen. Er konnte das nicht überlebt haben. Als ich es erfaßt hatte, ging ich mit meinem Schwert auf meinen Vater los und wollte ihn umbringen. Entsetzliche Schmerzen raubten mir mitten im Sprung die Beherrschung meiner Muskeln.

Ich habe es ihm nicht verziehen."
"Jesus, du sagst jetzt schon zum zweiten mal: 'Ich habe es ihm nicht verziehen.' Das ist falsch. Es macht dich kaputt. Genau das ist die Ursache, warum du dich nicht beherrschen konntest."
"Ich weiß. Ich weiß aber nicht, wo ich die Kraft zum Verzeihen hernehmen soll."
"Wenn du sie in dir selbst nicht findest, bitte Gott darum, daß er dir hilft. Ich will jetzt kein 'Ich kann nicht.' von dir hören. Los."

Damit hatte ich ihn in die Ecke gedrängt. Da brandete dieser unbeherrschbare Zorn wieder in ihm auf. Ich wußte, ich schwebte in Lebensgefahr. Und der Bursche trug nicht nur ein Schwert, er hatte auch noch gelernt, damit umzugehen. Ich ging in mich, in die Herzgegend und bat um Frieden und Liebe. Ich entspannte mich. Erst als ich mich ganz ruhig und voller tiefster Liebe für ihn fühlte, begann ich zu sprechen.
"Jesus." sagte ich leise, ließ ihm mit meiner Liebe einen kurzen Gedankenimpuls zukommen: "ich habe dir nichts getan. Diese Wut hat nichts mit mir zu tun. Sie ist fast so alt wie du. Nimm dich zusammen und tu, was ich dir gesagt habe." und schaute ihm ruhig und gerade in die Augen.
Ich spürte, wie ich ihn erreichte. Er erlangte die Kontrolle über seinen Körper zurück und fing das Schwert direkt über meiner Stirn wieder ab. Dann ließ er die Arme zitternd sinken und sah mich mit tränenerfüllten Augen an.

Das Ganze hatte nur Bruchteile von Sekunden gedauert. Doch ich fühlte mich vollkommen ausgelaugt und erschöpft. Ich betete, wie ich das auch beim Heilen machte, um Kraft und sie floß mich wie klares weißes Licht zu und hüllte mich ein. Ich atmete tief durch, entspannte meine Muskeln und lächelte Jesus zu.
"Leg dein Schwert in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers, Jesus. Dann hast du mehr Zeit, um zur Besinnung zu kommen, wenn du wieder einmal die Beherrschung verlierst." sagte ich freundlich.
Er nickte und gehorchte. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewußt, wie knapp ich dem Tod entronnen war. Er zitterte.

"Jetzt geh wieder an den Anfang des Geschehens und erzähl mir alles noch einmal." befahl ich.
Er sah mich ungläubig an, staunte über meine furchtlose Hartnäckigkeit.
"Du weißt doch, was die Alternative wäre." erklärte ich.
Er dachte daran, daß ich gesagt hatte, daß wir überlegten, ihn zu vergiften - und daß ich dann ebenso getötet würde. Und er begriff.

Er ging gehorsam an den Anfang der Geschichte und begann zu erzählen. Es kamen noch mehr häßliche Einzelheiten dazu. Ich hörte still zu, nickte manchmal oder lächelte und achtete streng darauf, im inneren Frieden zu bleiben, während Jesus mir von den Mißhandlungen seiner Kindheit erzählte und seine Stimme vor Tränen bald erstickte oder vor Wut zitterte. Immer wieder ließ ich ihn die Ereignisse durchgehen, fragte nach weiteren Einzelheiten. Und jedesmal, wenn er zum Ende kam, fragte ich, ob er jetzt verzeihen könne. Jedesmal verneinte er, jedesmal bat ich ihn, Gott um Hilfe zu bitten. Jedesmal sprang er auf, griff nach dem Schwert. Ich ging in mein Herz und sagte nur noch ein Wort: "Jesus." Und er legte es jedesmal beschämt zurück und setzte sich wieder an seinen Platz. Am Abend war ich zu Tode erschöpft.

Am nächsten Tag wechselte ich das Thema und ging der Frage nach, warum Jesus seinen Vater so hartnäckig mit dem Höchsten, mit Gott gleichsetzte. Im Grunde wußte er es doch besser.

 

 

Ich bin eine Geisel...

Schließlich stießen wir zu endlosen Tagen der Folter vor, in denen dem Kind Jesus von seinem Vater eingebleut wurde, daß sein Vater Gott sei und daß er ihm gehorchen oder sterben müsse. Nein - zuerst würde er mich zu Tode foltern, dann Thomas und dann Jesus.
"Hast du dich denn noch an mich erinnert?" fragte ich erstaunt.
"Ja. Du warst doch mein bester Freund!" antwortete Jesus.
"Das erklärt einiges." meinte ich und dachte daran, wie sehr ich überwacht und gefoltert worden war.
Ich hatte nie verstanden, warum ich für Jesus Vater überhaupt eine Bedeutung gehabt hatte, wozu er ein kleines Kind, wie ich es damals gewesen war, gebraucht hatte.

"Mein Vater hat mir die Foltern gezeigt. Immer, wenn ich ungehorsam war, hat er dich foltern lassen." sagte Jesus "Aber ich habe ihm trotzdem nicht gehorcht. Und..."
Ich sah in seinem Geist Szenen in denen ich weinte. Ich war überrascht. Vor den Engeln habe ich selten geweint. Ich habe mich bemüht, überhaupt nicht zu weinen, ihnen nie ein Zeichen von Unbehagen zu zeigen, denn ich wußte, daß sie meinen Willen brechen wollten und jedes Zeichen von Schwäche nahmen sie als Zeichen, daß sie an der richtigen Stelle getroffen hatten, daß sie genau dort noch einmal fester zuschlagen mußten. Diese Zeiten der Schwäche waren selten gewesen - selbst als ich noch ein sehr kleines Kind gewesen war.
"Hast du mich oft weinen sehen?" fragte ich.
"Ja. Jedesmal, wenn er dich gefoltert hat, weil ich unartig war. Und ich war schuld, daß er dich gefoltert hat."
"Oh - ich war ihm aber auch ziemlich oft ungehorsam - und dann hat er mich auch foltern lassen. Er hatte offensichtlich für manche dieser Foltern mehrere Verwendungen." entgegnete ich und lachte "Er kann dir nur einen winzigen Bruchteil der Foltern gezeigt haben. Ich habe nicht oft geweint. Nicht vor ihnen. Vor Freunden schon."
"Du meinst, du wurdest noch viel häufiger gefoltert?"
"Ja."
Jesu Vater hatte nicht wirklich Interesse an mir gehabt. Er brauchte die Foltern an mir nur, um seinen Sohn zu erpressen. Vielleicht, wenn ich etwas weniger tapfer gewesen wäre, hätte ich dann etwas weniger abbekommen. Andererseits - ich brauchte meinen Stolz und meine Tapferkeit auch, um innerlich mit allem klarzukommen. Jesu offener Geist zeigte mir noch einen anderen Aspekt: Es war wichtig für ihn gewesen, zu sehen, daß sie mich noch nicht kleingekriegt hatten, daß ich immer noch kämpfte.
"Warum hast du ihm nicht gehorcht?" fragte ich nachdenklich.
"Das konnte ich doch nicht. Er wollte immer, daß ich dich foltere. Und wenn ich es nicht gemacht habe, hat er mich und dich gefoltert." erklärte Jesus.
Es war mir unbegreiflich, woher Jesus die innere Stärke genommen hat, immer noch zu rebellieren. Bis heute.
"Ich kann doch nicht einfach aufgeben." entgegnete Jesus auf diesen Gedanken von mir "Er ist böse.".

 

 

Das Licht ist Gott

"Er hat dir den Weg zu Gott versperrt, indem er sich selbst als Gott ausgegeben hat. Kannst du ihm das verzeihen?"
Jesus fühlte in sich hinein und versuchte, die durch seinen Zorn auf seinen Vater gebundene Energie freizugeben. Es gelang ihm nicht.
"Nein." antwortete er.

"Bitte Gott um Hilfe." sagte ich.
"Ich kann nicht. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll!" sagte er unsicher.
"Du bist doch ausgebildeter Heiler. Nicht wahr?"
"Ja."
"Kannst du Wunden schließen?"
"Ja."
"Wie machst du das?"
"Ich rufe das Licht um Hilfe und es kommt und heilt." in seiner Stimme schwang ein Gefühl von tiefer Andacht, ja Seligkeit mit.
"Das Licht ist Gott. Oder zumindest das, was wir in dieser Welt noch von seiner unendlichen Schönheit wahrnehmen können. Bitte das Licht um Hilfe." wies ich ihn an.
Er ging in sich und seine Aura begann dermaßen hell zu strahlen, daß ich mein inneres Auge geblendet abwandte. Ich atmete auf.
"Ich habe das Licht gebeten." sagte er und seine Augen strahlten voll einer Freude und Rührung - so als könnte es so etwas nicht geben, wie er eben erlebt hatte "Es war gut. So kann ich verzeihen."

"Gut. Und jetzt erzählst du weiter."
"Du bist gnadenlos." sagte Jesus.
"Ich hatte mal eine Lehrer. Der war auch gnadenlos. Nichts hat mir im Leben so weitergeholfen, wie seine Lehren. Jesus Arid." ich lächelte.
"Jesus Arid? Ein wunderbarer Mensch. Aber du hast recht. Er ist wirklich manchmal gnadenlos."
"Er war offensichtlich nicht gnadenlos genug, was deine Vergangenheit anging." entgegnete ich hart.
Jesu weiches Lächeln zeigte, daß er sich an etwas Schönes erinnerte. Ich wartete, bis sich das Lächeln etwas verlor, gegenwärtiger wurde und sagte:
"Du wolltest mir eine Geschichte erzählen."
Jesus wurde wütend, nahm sich dann aber zusammen und begann zu erzählen:
"Ich kam in eine Schwertkampfschule. Ich wurde nicht ganz umgebracht. Aber halb... " "Mein Gott, was seinen Vater angeht, ist Jesus aber vollkommen aus dem Gleichgewicht." dachte ich.

Plötzlich fuhr Jesus zusammen, ging in eine Ecke des Zimmers und lehnte sich dort mit dem Gesicht zur Wand an. In regelmäßigen Abständen zuckte er am ganzen Körper zusammen.
"Jesus?" sprach ich ihn an.
Er sank in die Knie. Das Zucken ging unverändert weiter. Beunruhigt trat ich zu ihm hin, legte meine Hände auf seine Schultern und nahm telepatisch mit ihm Kontakt auf. Sein Körper wurde in regelmäßigen Abständen durch starke Schmerzimpulse geschüttelt, die das Nervensystem so durcheinander brachten, daß Jesus die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte. Er wurde also über Funk gefoltert. So sah es also von außen aus... bisher hatte ich es nur an mir selbst gespürt.

Ich spürte Jesu Geist als starken, ruhigen Beobachter im Hintergrund. Er wartete geduldig das Ende ab der Schmerzen, ohne sie gefühlsmäßig zu bewerten. Ich blieb in Verbindung, fühlte die Schmerzen mit und wartete ebenfalls ab. Nach zehn Minuten hörte es auf. Es dauerte weitere zehn Minuten, bis Jesus seinen Körper so unter Kontrolle hatte, daß er wieder aufstehen konnte. Jesus weinte vor Schmerzen.

Ich fragte ihn, was geschehen sei.
"Mein Vater hat mich bestraft." antwortete Jesus. Ich sah ihn nur fragend an.
"Ich sollte es nicht erzählen." erklärte Jesus.
Ich nickte:
"Dann erzähle es in der Gedankensprache."
Jesus Gesichstausdruck war malerisch. Verblüffung, Ärger und Schmerz gemischt. Dann fing er sich wieder und sagte:
"Gut.

Ich kam also in die Schwertkampfschule, die ein paar hundert Schüler hatte.

In der ersten Woche sah ich, wie ein zwölfjähriger Anfänger, der etwas kleiner, schwächer und ungeschickter war, als seine gleichaltrigen Klassenkameraden nach einigen Wochen der hoffnungslosen Kämpfe schließlich aufgab, sich zusammenkauerte und die Prügel ohne Gegenwehr über sich ergehen ließ. Das erste und zweite mal wurde er nur bewußtlos geprügelt und erhielt dann eine Moralpredigt. Beim dritten mal wurde er so lange verprügelt, bis er schließlich tot war.
"Merkt euch das." sagten die Lehrer zu uns anderen. Dennoch gaben bald darauf ein zweiter und ein dritter auf und wurden zu Tode geprügelt.

Die anderen Jungen waren mindestens doppelt so alt wie ich und es war außerdem üblich, die kleinen ganz besonders zu verprügeln. Ich hatte keine Chance gegen die anderen. Aber es lohnte sich, trotzdem zu kämpfen. Das war die einzige Möglichkeit, wie ich mir Achtung erringen konnte. Und ich kämpfte, solange ich noch einen Finger rühren konnte. Ich gab nie auf, bevor ich vor Erschöpfung die Besinnung verlor oder das Ende des Kampfes angesagt wurde. Ich kann nicht sagen, wie viele Schläge ich damals einstecken mußte. Es ist aber auch nicht meine Art, einfach aufzugeben. Ich meine, richtig aufzugeben, statt einen besseren Zeitpunkt zum Handeln abzuwarten.

Als achtjähriger konnte ich mich gegen die zwölfjährigen Anfänger durchsetzen, als neunjähriger gegen Erwachsene. Dann, gerade als die Lage für mich erträglich wurde, war mein Vater der Ansicht, daß ich auch dort genug gelernt hätte und riß mich wieder fort. Er brachte mich zu einem Heiler in der Wüste." Langsam wunderte es mich überhaupt nicht mehr, daß Jesus als zwölfjähriger am Rande des Wahnsinns gestanden hatte. Viel verwunderlicher war, daß er diese ganzen sechs Jahre in der Schwertkampfschule weitergekämpft hatte. Jeder halbwegs normale Mensch hätte irgendwann aufgegeben. Na ja - nach der Definition bin ich auch kein normaler Mensch.
"Hast du ihm das verziehen?"
"Was heißt hier verzeihen? Zuerst war ich wütend, aber es war das einzige mal in meinem Leben, daß mein Vater eine wirklich gute Entscheidung für mich getroffen hat. Der Heiler war der wichtigste Lehrer, den ich je hatte."

"Mein Gott, dein Vater muß dich ja geradezu hassen."
"Nein. Mein Vater liebt mich. Auch wenn man es nicht glauben möchte, wenn man sich anschaut, wie er mit mir umgeht. Ich glaube, es ist nicht nur für mich, sondern auch für ihn ein großes Unglück, daß er die Macht hat, jeden Schritt von mir zu überwachen, so daß ich mich nicht genug von ihm befreien konnte, um innerlich ein wenig über den Dingen zu stehen und ihm einigermaßen anständiges Verhalten abverlangen zu können." sagte Jesus.
"Woher weißt du, daß er dich liebt?" fragte ich.
Mir wurde klar, daß das stimmen mußte. Es hatte drei, vier Augenblicke gegeben, in denen Jesu Vater Dinge vom hochgeweihtem Rat gefordert hatte, von denen er wußte, daß sie Jesus eine Freude machen würden. Er hatte jedoch auch immer verlangt, daß Jesus nicht erfährt, wer ihm diese Freude machte. Begründung: "Er soll bloß nicht denken, daß das eine Belohnung ist."
Jesus bekam meine Gedanken mit und lächelte glücklich über diesen Liebesbeweis, von dem er noch nichts gewußt hatte.
"Es gibt ein paar Hinweise darauf. Einmal hat er es mir sogar direkt gesagt." dachte Jesus.
"Das ist überraschend. Der Mann tut so, als wäre seine Liebe zu dir etwas, für das er sich schämt und das er deshalb möglichst geheimhalten muß."
"Ich habe ihm einmal auf den Kopf zugesagt, daß es so ist. Da hat er es mir bestätigt. Mein Gott, in meinem ganzen Leben habe ich nur fünf richtige Gespräche mit ihm geführt, sonst hat er sich nur durch Drohungen mit mir unterhalten."

An dem Tag meldete mit Johannes, daß ich wie besprochen die Burg mit Jesus verlassen und in die Wüste hinausziehen sollte. Ich atmete zutiefst erleichtert auf. So waren wir wenigstens außeralb der Reichweite der ganzen Kinder, die hereinkommen und Jesus mit irgendeiner dummen Bemerkung aus dem Gleichgewicht bringen könnten.

 

 

Der Heiler in der Wüste

"Der nächste Lehrer, zu dem mein Vater mich brachte, war ein berühmter Heiler, der in einer Oase mitten in der Wüste lebte. Von weither kamen die Leute zu ihm, um ihre Krankheiten heilen zu lassen.

Mein Vater brachte mich zu ihm hin und drohte mir, daß er mich foltern würde, bis ich mich drei Tage nicht mehr rühren kann, wenn ich keinen guten Eindruck auf ihn machen würde. Ich sah meinen Vater nur schweigend an und bekam große Lust, extra einen schlechten Eindruck auf den Heiler zu machen.

Dann stieg ich aus und ein alter weishaariger Mann kam auf mich zu, der eine solche Güte ausstrahlte, daß ich mir nur noch wünschte, für immer bei ihm bleiben zu dürfen. Ich verlieh meiner Freude, ihn zu sehen mit einem Lächeln Ausdruck. Der Mann erwiderte das Lächeln. Dann bat er meinen Vater, uns alleine zu lassen und brachte mich in seine einfache Hütte. Wir setzten uns auf den Fußboden.

Der Mann betrachtete mich so aufmerksam, daß es mir schien, als müßte er jedes einzelne Haar auf meinem Körper bemerkt haben. Aber es war eine freundliche Aufmerksamkeit, bei der ich mich wohlfühlte. Und so wie du fragte er auch als erstes, ob ich wüßte, was die Ursache für meinen Buckel sei, der damals noch viel schlimmer war. Er erklärte mir, daß man so etwas bekommt, wenn man in einer Situation so wenig Unterstützung bekommt, daß man sein Selbstwertgefühl verliert.
"Wer unterstützt mich schon." fragte ich bitter.
"Unterstützt dich keiner?" fragte er sanft zurück.
"Nein. Mein Vater sorgt schon dafür, daß die Menschen, die mir helfen wollen, bald nicht mehr da sind. Ganz abgesehen davon, daß mir gegen ihn sowieso niemand helfen kann." antwortete ich.
"Wie sorgt er dafür?" fragte der Heiler sanft.
Ich erzählte, wie mein Vater meinen Schwertkampflehrer aus dem Raumschiff geworfen hatte.
"Das ist ernst." sagte er.
"Du siehst, gegen meinen Vater kann mir niemand helfen." stellte ich fest.

"Nicht gegen deinen Vater. Aber ich denke schon, daß ich dir etwas lehren kann, was dir im Umgang mit deinem Vater hilft. Immerhin ist es mir gelungen, ihm klarzumachen, daß er mich nicht zwingen kann, dich gut zu unterrichten. Daß er mich bitten muß. Und er hat nachgegeben. Was du hier lernen wirst, ist innere Stärke, die durch Gewalt nicht gebrochen werden kann, weil sie auf einer ganz anderen Ebene liegt. Willst du von mir lernen?"
"Ja." sagte ich von ganzem Herzen.
"Komm, dann laß uns rausgehen und deinem Vater sagen, daß ich dich als Schüler angenommen habe. Und denk daran: das tue ich nicht für deinen Vater, nicht weil er mir gedroht hat. Das tue ich nur für dich."
Damals habe ich vor Freude geweint.

Nach diesem Gespräch gingen wir hinaus zu meinem Vater, der den Heiler aufforderte, ihm in sein Schiff zu folgen. Als der Heiler wieder herauskam, war sein Gesicht naß von Tränen. Dann flog mein Vater davon.
"Du hast geweint?" fragte ich.
"Ja. Hast du schon öfter Erwachsene weinen sehen?"
"Ja. Das tun alle, wenn sie mit meinem Vater allein im Schiff sind. Aber ich habe mich nie getraut, sie darauf anzusprechen." sagte ich.
Der Heiler nickte und fragte:
"Weißt du auch warum?"
"Ich glaube, er foltert sie. Aber sie erzählen nie etwas davon." sagte ich.
"Macht er das mit dir etwa auch?"
"Ja."
"Wie oft und wie lange?"
"Wenn ich ihn überhaupt sehe, mindestens einmal am Tag so lange, bis ich mich nicht mehr bewegen kann."
"Das ist ernst."
"Ich kann es aushalten."
Er sah mich überrascht an und sagte:
"Du bist innerlich sehr stark, weiß du das?"
"Ja. Aber woher weißt du das? Ich habe dir doch noch gar nicht alles erzählt!" sagte ich.
Dann erzählte ich ihm von der Schwertkampfschule. Während er mir zuhörte, sah ich ihn weinen.

Auch der Heiler erwartete von mir, daß ich den ganzen Tag fleißig war. Doch er zwang mich zu nichts. Er nutzte meinen Stolz und meine Bereitschaft, jeden Menschen, dem ich begegnete, zu lieben, um das zu erreichen.

Einige Male befahl er mir aber, drei Wochen ganz allein in der Wüste zu schlafen und mit niemanden zu reden und keinerlei Arbeit zu tun. Erst nach dem dritten Male, verstand ich warum. Ich habe so gelernt mit mir allein glücklich zu sein.

Zwei Jahre hat mein Vater für diese Lehre vorgesehen, doch der Heiler erreichte, daß ich drei Jahre bei ihm bleiben durfte.

In dieser Zeit wurde ich zu einem sehr guten Heiler. Aber das war mir nicht bewußt, denn er war immer noch weitaus besser als ich.

Zum Abschluß meiner Lehre gab er mir ein Empfehlungsschreiben für die Schule der Heilkunst, in der er ausgebildet worden war, in die Hand. Er sagte mir, daß mein Vater vergeblich versucht hatte, mich dort unterzubringen und daß ich, wenn ich wolle, jetzt dort weiterlernen könne. Aber ich müsse den Berg dort zu Fuß hochsteigen, ohne Schuhe. Ich nickte und freute mich auf die Chance, bei Männern zu lernen, denen mein geliebter Lehrer so viel Achtung entgegenbrachte.
Zuerst schickte mein Vater mich jedoch woanders hin."
beendete Jesus seine Geschichte.

Wieder ließ ich ihn die Geschichte vom Mord erzählen, und immer noch war ein unglaublicher Zorn darin zu spüren. Doch war es schon weniger geworden. Ich ließ ihn weitere Stationen seiner Kindheit erzählen, wieder von vorne bei seinen ersten Erinnerungen anfangen, fragte nach Ereignissen in früheren Leben... oft war ich nahezu so weit, an meiner Aufgabe zu verzweifeln. Doch nach und nach wurde die Wut geringer.

 

 

Weitere Stationen von Jesu Kindheit

Die nächste Station in Jesu Leben war eine berühmte Schule, in der Jesus nicht nur viel Wissen erwarb, sondern unter seinen Mitschülern auch Thomas, seinen Freund fand, der ihn von da ab überallhin begleitete. Es zeigte sich jetzt auch, daß Jesus von jenem Heiler gelernt hatte, seine Wünsche so vorzubringen, daß sein Vater immer öfter bereit war, sie zu erfüllen.

Danach kam Jesus zu den Lehrern des Heilers. Wichtig sind zwei Prüfungsaufgaben, die der Führer dieser Schule der Heilkunst Jesus gestellt hatte.

Ein wegen seiner Gefährlichkeit in Ketten gelegter, schwachsinniger, gewalttätiger Verrückter, der kaum noch wie ein Mensch erschien, wurde von einem hilfesuchenden Verwandten zu den Heilern gebracht. Jesus erhielt die Aufgabe, ihn zu lieben. Jesus ließ sich zusammen mit dem Verrückten einsperren und ahmte dessen Verhalten nach, um ihn verstehen zu lernen. Es gelang Jesus, den Mann zu heilen.

Als Jesus auf Befehl seines Vaters gehen mußte, gab der Führer des Heilerordens Jesus eine zweite Aufgabe:
"Liebe deinen Vater."
Das war Jesus nach meinen Beobachtungen bis zu dem Tag, an dem er es erzählte nicht gelungen. Und doch wäre die Fähigkeit seinen Vater mit allen seinen Fehlern so anzunehmen, wie er ist, für Jesus das wichtigste gewesen, was er hätte lernen können. Und jedes bißchen, was er davon lernte, war für Jesu Leben unendlich gut und heilsam.

Als Jesus sich bei einem späteren Besuch darüber mokierte, daß die Heiler an Gott glaubten, wo sie doch an Jesus Vater erkennen könnten, was Götter für welche wären, machten diese Heiler Jesus auch darauf aufmerksam, daß das Volk von Jesu Vater ebenfalls an einen Gott glaubte, der sie geschaffen hätte. Jede glaubhafte Lüge besteht zu 90% aus Wahrheit.

Die weiteren Stationen von Jesu Leben waren unterschiedlich - immer wieder versuchte sein Vater Jesu Willen zu brechen und ihn zu bedingungslosen Gehorsam zu zwingen. Er zwang ihn immer wieder von Menschen zu lernen, die ihren Haß über den grausamen Vater Jesu an Jesus ausließen. Aber Jesus lernte auch immer wieder Menschen kennen, die ihn für das liebten und achteten, was er war und erkannten daß Jesus ein völlig anderer Mensch war als sein Vater.

Er hatte Jesu Geliebte zu Tode gefoltert.
"Ich dachte danach wieder einmal darüber nach, was mein Vater mit dir und mit Thomas gemacht hatte. Und ich kam zu dem Schluß, daß ich ihm nie wieder zeigen wollte, wer nun meine Freunde waren. Die naheliegendste Möglichkeit wäre gewesen, niemandem meine Liebe zu zeigen. Aber das wollte ich nicht. Ich wußte doch, daß ich die Liebe und Hilfe der anderen brauchte, auch wenn sie zweifellos ohne mich ausgekommen wären. Es wäre ihnen dann sogar besser gegangen, denn dann hätte mein Vater sich nicht in ihr Leben eingemischt, sie nicht bedroht und gefoltert, wie er es mit jedem tat, der ihm in die Quere kam."
"Ich bin trotzdem froh, dich zu kennen, Jesus mein Freund. Wenn du nicht gewesen wärest, hätte dein Vater zweifellos jemanden anders gefunden. - Der sich höchstwahrscheinlich leichter dazu hätte erpressen lassen, ihm zu Willen zu sein." widersprach ich.
"Also habe ich das genaue Gegenteil getan. Ich habe allen meine Liebe gezeigt - so daß mein Vater dadurch meine Freunde nicht mehr von meinen Feinden unterscheiden konnte. Aber eine Liebesbeziehung konnte ich nicht wieder eingehen. Das hätte selbst er mit Sicherheit bemerkt." erklärte Jesus.
Ich war beeindruckt. Jesus hatte so viele Charakterzüge, die ihn zu einem sehr guten König gemacht hätten, wenn diese Kindheit nicht so grausam gewesen wäre, wie sie war.

Und doch - langsam bekam ich wieder Hoffnung. Obwohl Jesus gerade jetzt in einem absoluten Tief drinsteckte - weil er an das Mädchen dachte, das er geliebt hatte, daran wie sie gelitten hatte, unter welchen Qualen sie gestorben war - und daran, daß er fürchtete, daß mir dasselbe bevorstehen würde. Er glaubte, daß er das niemals würde ertragen können.

Ich sah ihn traurig an. Es würde mit ziemlicher Sicherheit auf mich dasselbe zukommen. Das konnte ich mir an fünf Fingern abzählen - denn wir hatten ja nichts Geringeres vor, als die Pläne von Jesu Vater zu sabotieren.

Aber ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, diese Pläne nicht zu sabotieren. - Falls es überhaupt eine Möglichkeit gab, zu verhindern, daß er mein Volk in einem sinnlosen Krieg vernichtete, würde ich das tun - und jede Strafe dafür auf mich nehmen, die mir aufzubürden ihm in den Sinn käme. Und wie ich Jesus kannte, würde er mehr darunter leiden als ich. - Und das schlimmste war: Höchstwahrscheinlich war dieser Versuch nur eine leere Geste, die am Ende rein gar nichts bringen würde. Und dennoch würde ich es versuchen - denn ich würde es mir niemals verzeihen können, das nicht zu versuchen.

Mitten in diese trüben Gedanken hinein funkte Jesu Vater uns beiden an.
"Jesus, du gehst alleine in die Wüste - ich habe noch einige Dinge mit dir zu besprechen. Simon, du gehst nach Hause und kommst in vierzig Tagen an den Jordan, wo der Johannes immer tauft. Du wirst dann zusammen mit deiner Frau und Thomas die Vorgänge dort ungesehen beobachten." befahl er uns.
"Laß dich nicht unterkriegen." dachte ich Jesus zu - und ging. Während Jesus sich gehorsam zu der Stelle aufmachte, wo er hinbefohlen worden war.

 

 

Taufe am Jordan

Thomas, Maria und ich saßen hinter einem Fels versteckt am Rande der Menschenmenge, die gekommen war, um Johannes den Täufer zu hören. Zuerst war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Johannes taufte, wie er es täglich tat und hielt den Leuten die üblichen Reden.

Schließlich sagte Thomas:
"Schau, dort ist er." und zeigte auf Jesus, der sich in der Menge Johannes näherte.
Maria sah den buckeligen Mann und wollte es nicht glauben. Das konnte er nicht sein. Bei Kindern, die bei den Essenern aufwuchsen, gab es so etwas nicht. Auch keine Erbkrankheiten, wenn die Eltern und Großeltern ebenfalls zum Orden gehört hatten. Dergleichen hatte nur das einfache Volk, das die Lebensgesetze nicht beachtete.
"Wo?" fragte sie.
"Dort."
Thomas zeigte erneut auf den Buckeligen.
"Warum hat er einen Buckel?"
"Schau dir seine Aura an." wies ich sie an.
Ich stellte meine Aufmerksamkeit auf das den Körper umgebende Energiefeld ein. Sofort erschienen farbige Wolken um die Körper der Menschen in meinem Blickfeld. Jesu Aura war vollkommen klar und leuchtend.
"Die Aura ist perfekt." stellte Maria fest.
"Siehst du. Der Körper ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht immer das perfekte Abbild des Geistes." sagte ich.

Jesus ging hinunter ins Wasser und sprach Johannes an, der von seinem unangemeldeten Besuch sichtlich überrascht war. Sein Auftreten war bescheiden. Dann tauchte er wie alle anderen kurz ins Wasser. In dem Augenblick sah ich ein Raumschiff der Engel kommen. Es leuchtete hell wie ein Stern und war deshalb für die einfachen Leute sehr beeindruckend.
"Dies ist mein Sohn, den ich liebe und er wird mein König auf Erden sein."
Wütend funkelte ich das Schiff an. Es war einfach noch zu früh.

Ich blieb sitzen und wartete darauf, daß es Abend wurde, damit ich mit Johannes reden konnte. Als Johannes schließlich seine Arbeit beendete und sich auf den Heimweg machte, schloß ich mich ihm an.
"Und?" fragte er.
"Es ist zu früh."
"Ja."

 

Am nächsten Morgen saß ich zusammen mit meiner Frau in unserem Haus. Da kam der Johannes herein und sagte:
"Der Jesus ist da. Er will dich sehen."
Ich ging hinaus, um ihn zu begrüßen.
"Josef, bist du es?"
"Ja. Aber der Name ist mir verboten."
"Wie soll ich dich dann nennen?"
"Jesus."
"Das ist kein Name, sondern ein Titel."
Jesus senkte den Blick. Er strahlte eine gewisse Traurigkeit aus.
"Komm herein." lud ich ihn in unser kleines Haus ein.
Wir setzten uns hin.
"Jetzt soll ich also König sein."
Ich nickte:
"Ich stehe zu dir Jesus. Denk daran."

In dem Augenblick war ich traurig und fühlte ein Gewicht auf den Schultern, als müsse ich das ganze Leid der Welt tragen.

Dann kam mein Vater herein und sagte, daß vor dem Dorf Zeloten auf uns warten würden, die nach mir gefragt hätten. Sie hätten Verletzte. Das duldete keinen Aufschub. Ich winkte Jesus mitzukommen und wir folgten den Zeloten zu dem Platz, wo sie ihre Verletzten hatten. Dort angekommen sprachen wir schnell ab, wer was übernahm und begannen zu arbeiten. Es waren viele und schwere Verletzungen. Wir hätten nicht alle heilen können, wenn Jesus nicht dagewesen wäre.

Die Sonne ging längst wieder auf, als das Dringendste erledigt war. Ich stand von meinem letzten Verletzten auf, streckte meinen durch das lange, ruhige Sitzen schmerzenden Körper und sah mich um. Auch der Jesus war gerade mit seinem letzten Patienten fertig geworden. Meine Frau Maria arbeitete noch. Viele waren gestorben weil wir nicht rechtzeitig für sie hatten da sein können.

Am nächsten Morgen besuchte Maria, die beim alten Johannes gelernt hatte, mich zuhause. Eine Weile unterhielten wir uns über Alltäglichkeiten, dann änderte sich Jesu Ausstrahlung und ein anderes Wesen sprach durch seinen Körper:
"Simon, zweifele nicht an dir. Du bist schon seit vielen tausend Jahren mein treuester Diener. Du mußt bereit sein, für den König zu sterben, damit mein Plan sich erfüllen kann. Du wirst von allen Jüngern Jesu das härteste Los haben und NIEMAND wird sich deiner erinnern." sagte Jesus.
Mir lief es kalt den Rücken herunter, doch ich nickte nur still. Wenn es notwendig war, würde ich auch für Jesus sterben. Da gab es keinen Zweifel. Den Rest des Satzes nahm ich kaum zur Kenntnis. Er bedeutete mir nichts.
"Maria, du wirst Jesus heiraten. Deine wichtigste Aufgabe ist, daß du ihn überallhin begleitest, wohin sein Leben ihn führen wird. Denke daran."
"Du spinnst doch! Ich bin verheiratet!" entgegnete Maria, meine Freundin empört und vergaß dabei völlig, mit wem sie sprach, obwohl sie das vorher durchaus ebenso gespürt hatte, wie ich.

Auch ihr Mann Jorim sah in dem Augenblick aus, als wolle er Jesus erschlagen. Nur vor meinem inneren Auge erschien das Bild eines Jorim, der tot mit einem Pfeil im Rücken zwischen vielen Römern auf einem gepflasterten Hof lag. Ich schwieg darüber. Es hätte Maria nur wehgetan.

"Und du, Maria" wandte er sich an meine Frau "mußt wissen, daß Simon recht hat. Die Engel wollen euer Volk vernichten. Und wenn ihr nicht über euch hinauswachst, meine Kinder, werden sie das auch tun. Höre auf Simons Ratschläge, meine Tochter. Er ist die weitaus ältere und erfahrenere Seele von euch beiden. Und stehe zu ihm. Er wird deine Liebe in Zukunft bitter nötig haben. Ihm steht ein hartes Schicksal bevor."
"Wie könnt ihr das nur so negativ sehen? Warum sollten die Engel uns ins Verderben führen wollen? Haben wir ihnen etwas getan?" fragte meine Frau.
Dennoch hatten seine Worte sie tief genug getroffen, daß ihr Tränen in die Augen traten. Jesus antwortete:
"Ja, wir haben ihnen etwas getan: Wir existieren. Und wir haben eine Macht, die sie nicht verstehen. Sie wollen Sklaven, die sie blindlings verehren. Nicht alle. Aber mein Vater ist so ein Mensch.
"Wie ist es? Was wirst du tun, wenn ich mich seinen Plänen widersetze?". Und diesmal war es wieder wirklich Jesus, nicht das andere wesen, das durch ihn gesprochen hatte. Maria bemerkte den Unterschied nicht.
"Ich kann das nicht gutheißen. Aber für mich bist du der König." sagte Maria.
Jesus akzeptierte das mit einem Nicken und betrachtete mich lange forschend. Ich erwiderte seinen Blick ruhig.
"Simon, ich möchte von dir eine Erlaubnis. Ich brauche jemanden, der eine scheinbar unbedeutende Stellung hat und aus dem Hintergrund beobachtet, ob etwas schief läuft. Einen Heiler, der solche Mißstände erkennt und in Ordnung bringen kann. Bist du bereit, auf jede offizielle Anerkennung deiner Fähigkeiten zu verzichten, um diese Aufgabe zu übernehmen?"
Ich nickte. Damit hatte er mir ein reguläres Amt, das in jedem Essenerhaus existiert, übertragen. Das Amt des Priesterhausherrn, dessen Titel "Jesus" lautete.

"Warum bist du eigentlich gekommen?" fragte ich.
"Ich soll euch mitteilen, daß in drei Tagen die Einweihungen Jesu beginnen. Er wird sie innerhalb einer Woche bestehen. Jesu Vater wollte es so." antwortete Maria.
"Johannes hat es durchgesetzt." stellte ich fest.
"Ja." bestätigte Maria "Ihm blieb nichts anderes übrig."
"Die Hochgeweihten werden ärgerlich sein." sagte ich laut.
Ich erinnerte mich mit geöffneten Geist an die Szene vor meinen öffentlichen Einweihungen. Jesus sah mich schockiert an. Dann meinte er in der Gedankensprache:
"Das wird mich auch erwarten. Sie mögen mich nicht und sie haben Grund mich nicht zu mögen."
Ich stimmte ihm zu - und war überzeugt, daß er bestehen würde.

 

 

Auf wiedersehen bis zum nächsten Mal

Am nächsten Tag brach ich mit dem Jesus auf nach Karmel. Dort sollte er eingeweiht werden. Von der niedrigsten bis zur höchsten Einweihung alle auf einmal erhalten.
Auf dem Weg dorthin besuchten wir zwei meiner Patienten, deren Krankheiten ich nicht vollständig hatte heilen können. Außerdem erzählte ich Jesus laut die öffentliche Geschichte Karmels und ergänzte in der Gedankensprache die geheimen Richtigstellungen und Ergänzungen. Ich konnte sehen, wie sehr Jesus das viele Unrecht erschütterte, das die Engel dem Orden angetan hatten, ohne daß die einfachen Essener je davon erfahren hatten. Schließlich kamen wir in Karmel an und wurden von der Torwache eingelassen.
"Simon, Jesus, der Engel will euch sprechen." teilte der Wächter mir mit.

Ich nickte und ging zum Funkraum. Jesu Vater wartete dort auf uns. Ich begrüßte ihn höflich und fragte, womit wir ihm dienen könnten.

Er gab uns die Befehle für die Wochen nach der Einweihung. Wir sollten in den kleinen Ort Genezareth gehen, auf den umliegenden Marktplätzen ausrufen, wer wir seien und dann die Zeloten um uns scharen. Ich sah ihn an, um herauszufinden, was er sich dabei gedacht haben mochte. Doch sein Gesicht war ausdruckslos. Dann würde ich eben fragen.
"Herr, wenn wir das so machen, wie Ihr uns vorgeschlagen habt, sind wir innerhalb der nächsten drei Tage tot." gab ich zu bedenken.
"Ich habe euch nicht gefragt, was ihr von meinen Befehlen haltet. Wenn ich euch etwas sage, dann antwortet ihr "JA" - und damit hat sich die Sache." entgegnete er mit harter Stimme.
Auf seinem Gesicht zeigte sich die Spur eines boshaften Grinsens. Ich atmete tief durch und zwang Ruhe in meine Gefühle. Ruhe, Friede, Liebe. Ich entspannte gewaltsam die Muskeln meines Gesichts, die sich unwillkürlich vor Wut verkrampft hatten. Ich wußte immer noch nicht genau genug, was er sich dabei gedacht hatte, also bohrte ich weiter:
"Werdet ihr uns in irgendeiner Form Unterstützung zukommen lassen?"
"Selbstverständlich. Macht euch keine Sorgen." antwortete er in einem Tonfall, der vermutlich beruhigend klingen sollte.
Dahinter lag Triumph. Es war mir immer noch zu unklar. Also sagte ich:
"Ihr seid also froh, uns beiden endlich in einer tödlichen Falle gefangen zu haben."
Ein triumphierendes Lachen ging über sein Gesicht, verschwand wieder und machte Wut Platz. Genau das war sein Hintergedanke gewesen. Endlich Klarheit. Er hielt mir einen fünfminütigen Vortrag darüber, was mir denn einfiele, ihm so einen Blödsinn zu unterstellen. Ich ließ ihn ausreden und konzentrierte mich darauf, meine Gefühle wieder zu beherrschen. Ich rief Gelassenheit, Liebe und Friede in mein Herz und sagte dann lächelnd:
"Herr, ich bin eurer Hand. Ihr könnt mir mir tun, was immer euch gefällt. Ich werde immer in Liebe an euch denken."
Mit diesen Worten hatte ich immerhin soviel Erfolg, daß er statt innerlich zu triumphieren nur noch verwirrt war.

"Habt ihr noch weitere Befehle, oder soll ich jetzt gehen." fragte ich demütig.
"Küß mir die Füße."
Ich warf ihm, überrascht durch diesen vollkommen sinnlosen Befehl, einen Blick zu und kniete mich dann auf den Boden, um zu gehorchen. Er setzte mir mit ziemlicher Kraft einen Fuß ins Kreuz und zwang mich dadurch, mich hinzulegen. Wieder einmal entspannte ich meine Muskeln die sich unwillkürlich verkrampft hatten.
"Kriech vor mir, wie dieser elende Wurm von Seth vor mir kriechen mußte!"
"Ich fühle mich geschmeichelt, daß ihr mich mit ihm vergleicht, ..." im letzten Augenblick gelang es mir, den ziemlich frechen zweiten Teil dieses Satzes herunterzuschlucken, der gelautet hätte: "...dessen Geist und Persönlichkeit weit über dir stand, du lächerlicher, kleiner Tyrann." "Verdammt, ich habe mich aber auch gar nicht unter Kontrolle." dachte ich.

Aber dieses schwachsinnige Theater, was er da veranstaltete, reizte mich einfach zum Lachen. Immerhin - den Spaß konnte ich mir ja auch gönnen. Ich hob den Blick, lachte ihn an und meinte:
"Auf wiedersehen bis zum nächsten mal."
"Wer sagt, daß ein nächstes mal gibt?" fragte er, langsam aus dem Gleichgewicht geratend.
"Ich. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten. Es sei denn natürlich, du gibst auf." antwortete ich und strahlte ihn an.
Er trat mit fassungslosem Gesichtsausdruck drei Schritte zurück und warf uns aus dem Zimmer.

Lächelnd ging ich. Doch schon nach wenigen Schritten wich das Lächeln Traurigkeit. Ich sah Jesus an und dachte ihm zu:
"Das war's dann wohl."
Er sah mich an. Seine Augen hatten wieder fremd, wie von einer anderen Welt - und voller Liebe.
"Wer wird denn gleich aufgeben? Es läuft doch alles nach Plan." meinte die Wesenheit lächelnd.
Ich starrte sie verärgert an und fragte:
"Nach welchem Plan?"
"Du hast ihm zugestimmt, bevor du zur Welt kamst."
"Ich? Dann muß ich verrückt gewesen sein! Wer bist du überhaupt?"
"Wenn du in deiner unendlichen Weisheit meinst, daß du damals verrückt warst, dann wirst du zweifellos recht haben. Ganz davon abgesehen, weißt du ganz genau, wer ich bin. Also erinnere dich." antwortete er.
Ich war erst einmal sprachlos vor Wut. Besonders weil ich ihn tatsächlich kannte. Mir kam da so eine Erinnerung.
"Woher weiß ich überhaupt, ob ich dir vertrauen kann?"
"Ob du mir vertrauen willst, ist ganz allein deine Entscheidung. Da mische ich mich nicht ein. Selbstverständlich kannst du auch wie geplant aufgeben und dich umbringen lassen." entgegnete ER.
"Wenn du großer Gott nicht zu feige wärest, es selber mal mit einem oder zwei Leben zu versuchen, hättest du es zweifellos nicht nötig, mitleidig auf uns minderbemittelte Erdenwürmer herabzublicken, die nicht einmal zu einem Mindestmaß an Vertrauen fähig sind." konterte ich.
ER lachte:
"So gefällst du mir schon besser, mein Freund. Endlich kommt wieder deine gewohnte Unverschämtheit ans Tageslicht."
Ich lachte auch und entspannte mich. Dann fragte ich:
"Wie wär's, wenn du uns armen Erdenwürmern, deine großartigen Pläne erläutern würdest?"

 

 

Zuerst einmal läßt du dein Schwert zuhause ...

"Zuerst einmal läßt du dein Schwert zuhause, Jesus. Das Ding schadet dir mehr als es nutzen kann. Du bist einfach zu unbeherrscht, um es zu positiven Zwecken zu verwenden. Ein Schwert ist nur dann von Nutzen, wenn man es im Ernstfall NICHT zieht. Außerdem Simon, solltest du etwas liebevoller mit Jesu Vater umgehen. Er braucht diese Liebe - und wenn du sie ihm nicht zwangsweise reinwürgst, wird er dich zur Strafe tatsächlich umbringen. Du weißt doch, daß man einem wirklich friedvollen Menschen nichts zuleide tun KANN. Die letzten Sätze waren übrigens gut. Du hast ja gesehen, wie das gewirkt hat. Und die Römer werdet ihr nicht angreifen, sondern anlächeln. Das immerhin sollte euch gelingen. Ihr kennt sie bei weitem nicht so gut, wie Jesu Vater. Das macht es leichter. Also erinnert euch gefälligst, daß ihr sie im Grunde eures Herzens liebt. Dann können sie euch nichts tun. Auf den Marktplätzen werdet ihr nicht die Zeloten zusammenrufen sondern Friede und Liebe predigen. Und vor allen Dingen, haltet euch selbst an diese Predigten. Wenn ihr tut, was ich euch sage, wird sich alles zum Guten wenden. Wenn euch das nicht gelingt, geht entsprechend viel schief. Also tut euer Bestes. Jeder falsche Gedanke, wird hunderten von Menschen das Leben kosten, meine Kinder."
Johannes und ich sahen uns an. Das klang absolut nicht nach einem durchführbaren Plan. Das klang eher wie das haltloseste esoterische Geschwafel, was wir je gehört hatten. Es gab eigentlich nur einen Grund, DAS auszuprobieren: Die Situation war sowieso völlig aussichtslos. Wenn die möglichen Pläne keine Aussicht auf Erfolg haben, fängt man halt mit den unmöglichen Plänen an.
"Also gut. Wir tun was du sagst, Christus." antwortete ich.
"Aber richtig." forderte er.
"Selbstverständlich, Christus. Wenn ich schon Dummheiten mache, dann bin ich auch Konsequent damit." versprach ich, aber mein Mundwinkel zuckte verräterisch. Ich habe einfach eine unmäßig übertriebene Portion Galgenhumor mit auf den Lebensweg bekommen. Johannes stimmte mir mit einem ernsten Nicken zu, doch kaum war die Bewegung zuende, mußte er einfach nur lachen, weil dieser Plan dermaßen verrückt war, daß kein halbwegs normaler Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, so etwas auch nur in Betracht zu ziehen. Ich lachte ebenfalls. Von dem Wesen ging eine solche Freude, ein Triumph aus, daß ich mich nur wundern konnte. ER zumindest schien ehrlich von seinem Plan überzeugt zu sein.
"Wenigstens einer, der mit dem Plan glücklich ist." dachte ich Johannes zu.
Er grinste.

Die nächsten Stunden verbrachten Johannes und ich damit, daß wir herausklamüserten, welche Absichten Jesu Vater mit seinen Befehlen verband. Jesus dagegen war mit seiner Einweihung beschäftigt. Im Endeffekt kamen wir zum Ergebnis, daß er die Römer damit so provozieren wollte, daß sie uns umbrachten. Da sowohl ich als auch Jesus als sehr gute Heiler sehr beliebt im Volke waren, würde das totsicher den Krieg auslösen, den Jesu Vater schon immer hatte anzetteln wollen. Zumal damit die Hälfte der Anti-Kriegs-Partei im Hochgeweihten Rat ausgeschaltet war.

Ich grübelte in der Nacht lange, ob es nicht irgendeinen Trick gäbe, wenigstens den Krieg zu verhindern. Mir fiel keiner ein.

Als wir Jesus nach vier Tagen in der nächsten Ratssitzung wiedersahen, sah er ziemlich mitgenommen aus. Kein Wunder, wenn man bedachte, daß er in dieser Zeit wahrscheinlich pausenlos gefoltert worden war. Doch er begrüßte und mit seinem üblichen herzlichen Lächeln und besprach gelassen seine Reise nach Genezareth mit dem Rat. Selbst den falschen Hochgeweihten fiel auf, daß es so nicht funktionieren konnte - doch statt sich dagegen zu wehren trösteten sie sich mit der Vermutung, daß Jesu Vater uns bestimmt unterstützen würde.

Ich sagte gar nichts dazu, erklärte nur, daß ich Jesus begleiten würde. Und darauf reagierten sie so begeistert, daß mir klar wurde, daß Jesu Vater ihnen einen Teil der Wahrheit verraten hatte: Den, daß er uns ebenfalls loswerden wollte. Ich verriet ihnen nicht, daß ich sie durchschaut hatte. Nur von Johannes und Maria, Jesu Mutter verabschiedete ich mich herzlich, denn ich glaubte, daß wir uns in jenem Leben nicht wiedersehen würden. Und Johannes und Maria waren Freunde.

 

 

Träume, die sich nicht von der Realität unterscheiden lassen

Mit der Zeit, von der das neue Testament überwiegend handelt, habe ich ein Problem: Ich werde nicht schlau aus meinen Erinnerungen und das ging mir schon so, als ich es erlebte.

In Genezareth wurde uns ein Haus zugewiesen, in dem wir leben sollten. Unter diesem Haus hatten die Engel große, mit Maschinen ausgehobene Keller.

Die Phase, die ich nicht sortieren kann, begann damit, daß Jesus von den Engeln den Befehl erhielt, mich in den Keller zu bringen. Dort wartete eine Liege auf mich, an der er mich mit gestreckten Gliedern festschnallen sollte und ein Ding, das er mir in den Mund stecken und am Kopf festschnallen sollte, so daß ich nicht den Mund öffnen oder mir auf die Zunge beißen konnte, wenn ich mich während der Foltern verkrampfe.

Mich erschreckten diese Sicherheitsmaßnahmen, denn bei den Foltern, die ich von Kindheit an kannte, waren sie nicht nötig gewesen. Und ich brauchte wahrhaftig nichts, das noch schlimmer ist. Natürlich galt dasselbe, was auch in meiner Kindheit wahr gewesen ist: Widerstand ist witzlos. Wenn diese Sicherheitsmaßnahmen von den Engeln verlangt wurden, war es in meinem eigenen Interesse, sie auch anzuwenden, damit ich nicht zusätzlich zu den Foltern, die sie mir sowieso antun würden, noch weitere Verletzungen erleide. Ich half Jesus also, mich festzuschnallen und dann begannen Foltern, die schlimmer waren, als die gewohnten. Sie wurden fortgeführt, bis ich die Besinnung verlor.

Ich kann weder sagen, wie oft ich so gefoltert wurde, noch wie diese Foltern genau funktioniert haben. Klar ist nur, daß sie mein Nervensystem so schädigten, daß ich auch, wenn ich wach war, oft weder etwas sehen oder hören, noch etwas tun konnte. Die meiste Zeit hatte ich Schmerzen, die sich frei im Körper bewegten und die keiner konkreten Verletzung zuzuordnen waren.

Mit den Foltern und Schmerzen konnte ich umgehen. Auch damit, daß ich annahm, daß sie mich auf diese Art zu Tode foltern würden, kam ich zurecht. Das war schließlich etwas, das schon seit meiner frühesten Kindheit zu meinem Leben gehört hatte. Aber die Träume die ich in dieser Zeit hatte, machten mir richtig Angst.

Die Träume waren an sich beängstigend und durchweg noch furchtbarere Erfahrungen, als ich sie im Leben sowieso schon gewohnt war. Aber das fand ich nicht so schlimm. Das furchtbarste an diesen Träumen war, daß ich sie auch im Nachhinein beim besten Willen nicht von der Realität unterscheiden konnte. Einmal träumte ich, daß die Römer mich gefangen genommen hätten. Unter der Garnison der Römer war in dem Traum ein Höhlensystem, das ebenfalls den Engeln gehörte und dort wurde ich gefoltert und kastriert. Als ich danach wieder einmal wach war, konnte ich nicht glauben, daß das nur ein Traum gewesen war, weil ich mich darin genauso gefühlt hatte, wie ich mich im Wachleben in einer solchen Situation gefühlt hätte und weil ich immer noch Schmerzen zwischen den Beinen hatte. Jesus zwang mich schließlich, zwischen meinen Beinen nachzuschauen und bewies mir so, daß da noch alles in Ordnung war. In einem anderen Traum wurde eines meiner Kinder unter dem Tempel zu Tode gefoltert. Und in einem weiteren sah ich mich wie ein Automat zu Jesus gehen, um ihn mit der Axt zu ermorden - und ich konnte den Schlag im letzten Augenblick abfangen.

Ich hatte große Angst, wahnsinnig zu werden. Und Jesus hat diese Angst wohl geteilt, denn der hat Johannes den Täufer gerufen, damit er mich psychotherapeutisch behandelt.

Heute, zwei Jahrtausende nach Jesu Leben, habe ich einen Vorteil, den ich damals nicht hatte.

Damals wußte ich zwar, daß die Engel nur Menschen sind, die sich körperlich kaum von uns unterscheiden. Ich wußte auch, daß das, was sie an unerklärlichen Dingen konnten, nicht durch Magie sondern durch Technik bewirkt wurde, die jeder Mensch mit der entsprechenden Ausbildung beherrschen und auch mit den richtigen Werkzeugen bauen konnte. Aber ich hatte keine Ahnung, wie man diese Technik benutzt, wie sie funktioniert und wie man sie baut. Ich wußte nicht, was sie bewirken kann und was nicht. Und ich wußte nicht mal sicher, wie viele Engel es gibt.

Heute bin ich in einer technischen Kultur aufgewachsen, deren technische Möglichkeiten denen der Engel ähnlich genug sind, daß ich einiges, bei denen ich damals nicht sicher war, ob es vielleicht wirklich passiert sein könnte, eindeutig als Träume entlarven kann. Und ich habe sogar herausgefunden, wie diese Art Träume heißt, nämlich Oneiroide.
O7.44 Beschreibung: Beschreibung: Kersti:Nah-Todeserfahrungen sind keine Oneiroide
Aber um das, was ich damals erlebt zu haben meinte - oder befürchtete - klar in Realität oder Traum auseinanderzusortieren, reicht es bis heute nicht aus.

 

 

Irgendwann hörten die Engel auf, mich durch ständige Foltern außer Gefecht zu setzen.

 

 

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Weitere Inhalte zum Leben Jesu aus der selben Quelle siehe unter: Das leben von Jesus


Autorin: Kersti Nebelsiek

www.fallwelt.de/dokumente/JesuLeben.htm